Teil 5: Altschnee

Von Jörn Heller am 20.Mär. 2015

Wie in den vorangegangenen Artikeln bereits angeführt, beschreibt ein Muster in der analytischen Lawinenkunde ein regelmäßig immer wiederkehrendes Lawinenproblem. Der letzte Teil unserer Artikelserie befasst sich mit dem Gefahrenmuster "Altschnee".

Das Gefahrenmuster Altschnee ist das am schwierigsten zu beurteilende Gefahrenmuster, da es innerhalb der Schneedecke lauert und nur schwer zu erkennen ist. Zudem sind unsere Möglichkeiten, in die Schneedecke hineinzuschauen und insbesondere die Erkenntnisse, die wir hieraus gewinnen können, begrenzt.

Es empfiehlt sich also defensives Verhalten. Das heißt konkret: Meidung von steilem Gelände, wohl überlegte Spuranlage, sowohl im Aufstieg als auch bei der Abfahrt! Der  Wahrnehmung von kritischen Geländezonen und Gefahrenstellen kommt absolut wichtige Bedeutung zu – im Zweifelsfalle oder bei Unklarheit sollte auf diesen Hang verzichtet werden.

Typisch für eine Altschneeproblematik sind schneearme Winter mit einem schwachen Schneedeckenaufbau. Die Schneedecke ist einer permanenten Umwandlung unterworfen, wir sprechen von abbauender und aufbauender Umwandlung. Beide Umwandlungsformen können parallel und zeitgleich in der Schneedecke ablaufen. Hinzu kommt nebenbei als dritte Umwandlungsform die sogenannte Schmelzumwandlung.

Als Eselsbrücke kann man sich merken: Abbauende Umwandlung steht für „Abbau von Lawinengefahr." Als Endprodukt entstehen große rundkörnige Altschneekristalle. Aufbauende Umwandlung: „Aufbau von Lawinengefahr". Das Endprodukt sind große, kantig-kristalline Formen, die schwer erkennbare, heimtückische Gleithorizonte innerhalb der Schneedecke bilden.

Etwas Schneephysik: Was passiert bei der aufbauenden Umwandlung und warum ist sie so heimtückisch?

Zunächst braucht es einen Temperaturgradienten / ein Temperaturgefälle innerhalb der Schneedecke. Je höher der Temperaturgradient zwischen dem Boden und der Schneedecke, desto schneller verläuft die aufbauende Umwandlung (Beginn ab ca 0,25°C). Nebenbei gesagt: Exakt aus diesem Grund sind schneearme Winter ja auch besonders heikel, denn die aufbauende Umwandlung verläuft in einer dünneren Schneedecke erheblich schneller, da der Temperaturgradient höher ist.

Entlang dieses Temperaturgefälles findet ständig eine Dampfdiffusion in Richtung der kälteren Schicht statt. Es bilden sich kantig aufgebaute Kristalle entlang der Schichtgrenzen, die schwer erkennbare, tückische Gleithorizonte bilden.

Direkt am Boden spricht man auch von „Schwimmschnee", der sich insbesondere in schneearmen Wintern häufig bildet und für überdurchschnittlich viele Unfälle sorgt.

Während länger andauernden Kälteperioden kann die gesamte Schneedecke aufbauend umgewandelt werden (alles ist wie Zucker) und stellt dann keine Gefahr mehr dar. Das ist so lange gut für uns Skitourengeher und Freerider, bis dieses labile Fundament erneut eingeschneit wird.

Weitere gefährliche Gleithorizonte, welche sich in der Altschneedecke befinden können, sind beispielsweise eingeschneiter Oberflächenreif, Graupel oder Eislamellen.  Insbesondere der Oberflächenreif ist eine häufige Ursache für Schneebrettunfälle. Diese in der Schneedecke eingelagerten Schwachschichten bleiben uns oft über Wochen als unsichtbare Dauergefahr erhalten. Erst die Schmelzumwandlung durch Regen oder Frühjahrswärme sorgen für Abhilfe. Beim Gefahrenmuster Altschnee ist also defensives Verhalten angesagt!

Einfache Schneedeckentests wie z.B. der Kompressionstest können nützlich sein und ermöglichen einen tieferen Einblick ins Detail. Voraussetzung für solch eine systematische Schneedeckendiagnose ist allerdings ein geschultes Auge, eine ordentliche Portion Schneewissen, viel Erfahrung und die Fähigkeit, die gewonnenen Erkenntnisse in einen Gesamtzusammenhang zu bringen. Ein Altschneeproblem rein analytisch anzugehen, ist definitiv sehr anspruchsvoll – im Zweifelsfall also besser defensiv verhalten.

Zu guter Letzt noch eines:
Vor einer finalen „Go"- Entscheidung sollte immer eine Konsequenzanalyse stehen.

  • Was passiert, wenn der Hang trotzdem kommt?
  • Was bedeutet das für mich?
  • Wo werde ich hingespült?
  • Wo wird der Bruch voraussichtlich erfolgen und wie viel Schnee wird transportiert?
  • Gibt es sichere Sammelpunkte?
  • Wie ist der Auslauf?
  • Ist das Risiko jedem bewusst?
  • usw.

Mit der Konsequenzanalyse versuchen wir der Tatsache Rechnung zu tragen, dass ein Lawinenereignis nicht zu 100% ausschließbar ist. Sind die Konsequenzen fatal, muss die Entscheidung von größter Eindeutigkeit sein. Nicht zuletzt stellt man bei der Konsequenzanalyse auch noch einmal die eigene Wahrnehmung kritisch in Frage.

Frei nach dem Motto: „Willst du ein guter Entscheider sein, dann höre auch in dich selbst hinein".

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