Lawinenprävention und Bauchgefühl

Von Tom Leitner am 21.Jan. 2016

Spricht man in so heiklen Bereichen wie der Lawinenkunde – in denen es ja bekanntlich um Leben und Tod geht – von Entscheidungen aus dem Bauch heraus, so wirkt das in der Öffentlichkeit schnell unseriös bis verantwortungslos. Erhebungen von Experten wie Jan Mersch zeigen aber, dass – entsprechende Erfahrung vorausgesetzt (mindestens zehn Winter in Folge mit 80+ Skitagen) – das Bauchgefühl durchaus zur richtigen Entscheidungsfindung führt.

Neben dem Wissen über Verschüttetensuche und der grundsätzlich richtigen Ausrüstung (LVS-Gerät, Schaufel, Sonde, Lawinenairbag), um im Ernstfall eben auch Rettungsmöglichkeiten zu haben, muss die Prävention von Lawinenabgängen absolute Priorität haben. Eigentlich gibt es momentan trotzdem nur zwei Ansätze, die Lawinengefahr abzuschätzen, beide auf analytischer Basis.

Anfänger und weniger Fortgeschrittene beziehen sich meist auf vorgefertigte Entscheidungshilfen. Das geht von der Reduktionsmethode nach Munter über die Snowcard und weitere Hilfsmittel, welche die Entscheidung, in einen Hang einzufahren oder darauf zu verzichten, erheblich vereinfachen. Diese Methoden basieren auf Wahrscheinlichkeiten und zielen immer darauf, aufgrund der aktuellen Lawinenwarnstufe in Kombination mit der Steilheit bestimmtes Gelände als potentiell lawinengefährlich auszuschließen. Je höher die Lawinenwarnstufe und je steiler das Gelände, desto mehr Expositionen werden zur no-go Area erklärt. Die Einfachheit dieser Modelle hat mit Sicherheit viele Lawinenopfer verhindert und einen großen Beitrag zur Sicherheit beigetragen. Allerdings vereinfachen diese auch sehr stark und generalisieren ganze Gebiete, ohne Einzelheiten bestimmter Hänge zu berücksichtigen. Das ist der Grund, warum (nach eigener Einschätzung) erfahrene Skifahrer und Bergsteiger sich nicht auf diese Hilfen verlassen wollen. Sie fühlen sich durch solche eingeschränkt.

Wer sich tiefer und über lange Zeiträume mit der Materie befasst hat, wird den Drang haben, hinter die Funktionsweisen dieser vereinfachten Modelle zu blicken und ein eigenständiges Verständnis für die Eigenschaften unseres so geliebten Elementes, des Schnees, zu erlangen. Dies erfordert eine analytische Herangehensweise, abseits vorgefertigter Modelle, welches großes Wissen und die richtige Technik erfordert. Nach dem Erstellen eines Schneeprofils den Schneedeckenaufbau und die Zeichen richtig zu deuten, ist hochkomplex und selbst nach jahrelanger Erfahrung erschließen sich so manche Besonderheiten nicht.

Das Bauchgefühl
Mit diesem Wissen über die eigene Unwissenheit kommt eine weitere Komponente ins Spiel: das Bauchgefühl. Wer, wie wir Profiskifahrer bei unseren Filmaufnahmen, am Limit unterwegs ist, kann sich natürlich nicht auf die Reduktionsmethode berufen. Es ist einfach so, dass das, was man in Filmen sieht, weit jenseits dessen liegt, was in der Methodik als sicher gilt. Es gilt für uns also, eigenständig Entscheidungen zu treffen.

Und obwohl es durchaus sinnvoll wäre, vor jeder Abfahrt ein Schneeprofil in entsprechender Exposition zu graben, so sieht die Realität meist anders aus. Komplizierte und schwierige Aufstiege und ein gewisser Zeitdruck erlauben es meist nicht, so ins Detail zu gehen. Stattdessen sind wir sehr oft von unserer Erfahrung abhängig. Das Gefühl, welches dann zur Entscheidung führt, ist hochkomplex, oft unterbewusst und immer eine Gratwanderung. Manche nennen es Intuition, andere Bauchgefühl. Was dahinter steckt, ist aber immer dasselbe: ein unbewusstes Wahrnehmen von Mustern und Zeichen wie Geländeformen, das Aussehen des Schnees, der Klang beim Befahren oder das ungute Gefühl, durch Triebschnee zu fahren. Diese Muster werden mit Erfahrungen der Vergangenheit verglichen um daraus Rückschlüsse zu ziehen, ob das Risiko vertretbar ist oder besser einen andere Variante gewählt wird.

Allerdings hat diese Herangehensweise einen großen Haken: sie ist stark subjektiv. Die Entscheidung hängt am Ende von realistischer Selbsteinschätzung (was ist schon realistisch?) sowie von Befindlichkeiten wie aktuelle Konstitution oder auch Laune ab. Zudem sind die Erfahrungswerte, welche als Basis für Entscheidungen dienen, oft nicht ausreichend und trügerisch. Denn um aus dem Gefühl heraus richtig entscheiden zu können, ist ein großer Erfahrungsschatz von Nöten, der sich nur über viele Jahre mit hoher Intensität aufbauen kann. Und selbst dann ist dieser Erfahrungsschatz tückisch, in manchen Fällen sogar besonders: nur wer auch negative Erlebnisse, sprich einen oder mehrere Lawinen- oder Schneebrettabgänge erlebt und überlebt hat, kann auch entsprechende Warnzeichen richtig interpretieren. Wieviele „alte Füchse" gibt es, welche immer nach Gefühl gehandelt haben und über ein übertriebenes Selbstbewusstsein und damit über eine hohe Risikofreude verfügen, nur weil es bis jetzt immer noch gut gegangen ist. Das Problem bei der Lawinenthematik ist einfach, dass man sich eigentlich keine Fehltritte leisten kann und diese oft tödlich sind. Zudem kann vieles, was rückblickend als die richtige Entscheidung aufgefasst wird, oftmals nur Glück sein: niemand von uns weiß, wie oft er einfach nur Glück hatte, weil der Hang nicht abging und vielleicht die beste Abfahrt daraus entstand. Leider speichern sich diese Erfolgserlebnisse eben als „Erfolg" ab und verleiten so, Warnzeichen zu ignorieren.

Aus meiner Erfahrung ist es wichtig, als fortgeschrittener Freerider alle drei genannten Möglichkeiten zu kombinieren. Die Basisinformationen im Internet mit Lawinenwarnstufe, gefährdeten Expositionen und Steilheiten geben eine objektive Grundlage, um die Situation einzuordnen. Diese Infos zu haben darf aber nicht bedeuten, die Verantwortung abzugeben und sich vor eigenen Entscheidungen zu drücken. Jeder ambitionierte Skifahrer sollte den Drang haben, die komplexen Funktionsweisen des Schnees verstehen zu wollen. Aber auch dabei sollte man sich immer bewusst sein, das dies niemals ganz möglich ist und ein Vorgehen nach einem Schema in der freien Natur immer an Grenzen stoßen wird. Deshalb ist es wichtig, diese Informationen und das wissenschaftlich fundierte Wissen in den eigenen Erfahrungsschatz zu integrieren. Tut man das, darf man sich auf die Intuition zu einem gewissen Grad verlassen.

Freeriding an sich ist aber nunmal ein Abenteuer und ein großer Teil der Faszination ist es, den Ausgang nie zu 100% vorherzusagen. Deshalb ist es, in der Lawinentaktik wie in der Linienwahl, essentiell, das eigene Tun und die eigenen Fähigkeiten immer kritisch zu hinterfragen und sich im Kontext des Berges ständig neu einzuordnen. Wer diese Fähigkeit der Anpassung beherrscht und sein eigenen Ego im Griff hat, hat große Chancen, ein langes, erfülltes Leben (nicht nur) als Skifahrer zu führen.

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