Teil 2: Gefahrenmuster Neuschnee

Von Jörn Heller am 29.Jan. 2015

Der zweite Teil unserer Artikelreihe in der Mammut Safety Rubrik setzt sich mit dem Gefahrenmuster "Neuschnee" auseinander. Im Mittelpunkt steht die Problematik der Schneebrettlawinen, die mindestens 95 % der tödlichen Lawinenunfälle ausmachen.

Die aktuelle moderne Lawinenkunde, wie sie zumindest in Deutschlands führenden Verbänden gelehrt wird, basiert auf einem Zwei-Säulen-Prinzip. Seit 2012 stehen die beiden Säulen Probabilistik (Risikoabschätzung mittels Snowcard, elementarer Reduktionsmethode o.ä.) und Analytik mittels der vier Schweizer Gefahrenmuster (analytische Beurteilung der Schneedecke) nebeneinander und werden strategisch miteinander verknüpft.

In dieser klaren Ablaufstrategie geht die Risikoabschätzung, also die Verknüpfung von wie, wo, was des Lawinenlageberichts mit der Snowcard oder elementaren Reduktionsmethode, der Mustererkennung (analytische Säule) voran und bildet einen mehr oder minder hohen Eingangswiderstand.

Erkennen von Gefahrenmustern
Aufgabe des erfahrenen Freeriders oder Tourengängers ist es nun, in diese Strategie das Erkennen von Gefahrenmustern zu integrieren und so die Aussagen der Probabilistik in jede Richtung zu verifizieren.

Vorsicht! „Und es geht ja doch...": Du solltest gute Argumente und entsprechendes Fachwissen an der Hand haben, wenn du die Limits, die die Probabilistik aufzeigt, überschreitest bzw. außer Kraft setzt.

Hinweis: Die Ausführungen beziehen sich primär auf die Problematik der Schneebrettlawinengefahr. Denn diese stellt die primäre Gefahr für Wintersportler dar. Da Lockerschneelawinen eher eine untergeordnete Rolle spielen, wird hierauf nicht näher eingegangen.

In der Folge werden vier immer wiederkehrende Muster vorgestellt. Die Ausführungen beschränken sich auf die Schweizer Muster, denen die 10 weiterführenden Tiroler Muster zugeordnet werden können.

Grundlagen
Bevor wir nun endlich ins Thema "Gefahrenmuster Neuschnee" einsteigen, müssen wir noch kurz ein paar Grundlagen klären: Schnee reagiert plastisch (verformbar), ist aber entgegen weit verbreiteter Meinung nicht elastisch. Einmal in Form gebracht, behält er diese bei. Die plastische Reaktion wiederum braucht Zeit.

In der Konsequenz heißt das, dass Schnee bei schneller Veränderung spröde reagiert und zerbricht. Es ist lediglich eine Frage der Störanfälligkeit und deren notwendiger Zusatzbelastung (z.B. Skifahrer), damit eine Schneebrettlawine ausgelöst wird. Keine Elastizität heißt auch keine Spannung in der Schneedecke, wie oft fälschlich behauptet wird. Je nach Haftung kriecht oder gleitet die Schneedecke langsam bergab oder donnert eben als Lawine ins Tal.

Die Ursachen eines Schneebrettabgangs lassen sich fast immer anhand der Mustererkennung feststellen. Doch welche Faktoren bedingen nun ein Schneebrett?

  • Es braucht eine gebundene Schicht, die auf einem darunter liegenden Gleithorizont / einer Schwachschicht liegt.
  • Die Schwachschicht muss störanfällig/störbar sein und - nomen est omen - eine geringe Bindungskraft aufweisen. Zudem sollte sie im oberen Meter liegen, damit wir sie ausreichend penetrieren können.
  • Jetzt braucht es nur noch Neigung: Normalerweise brechen Lawinen in Geländesteilheiten über 30 Grad an. Im Extremfall (Untergrund, Gleitlager) ist dies auch schon bei 25 Grad möglich.

Da in unseren Breiten quasi immer eine Bindung im Schnee vorhanden ist, ist der entscheidende Punkt der Gleithorizont. Je schlechter hier Haftreibung aufgebaut wird, desto weniger Bindung in sich braucht es für eine Schneefläche zum Abgleiten.

Das Gefahrenmuster Neuschnee
Frisch gefallener Schnee unterliegt einem permanenten Umwandlungsprozess. Mit der Zeit wird die Schneedecke dichter und tragfähig. Entscheidend ist also der Faktor Zeit! Allgemein bekannt ist, dass die beiden ersten Tage nach dem Neuschneefall die heikelsten sind. In dieser Zeit ist die Schneedecke viel „in Bewegung" und die Schneedecke entsprechend labil.

Nach intensiven Neuschneefällen (mehr als 50 cm) besteht deshalb in aller Regel erst einmal große Lawinengefahr (Stufe 4), danach stellt sich jedoch eine stabile Situation ein. Die mächtige, verfestigte Schneedecke ist schwer störbar und in sich sehr stabil und tragfähig. Die entscheidende Rolle spielt neben der Menge aber vor allem der Untergrund, auf den der Neuschnee fällt.

Günstig sind:
abgebauter Altschnee
stark befahrenes Gelände

Ungünstig sind:
Reif
Harsch
Eis
Graupel

Beurteilung des Gefahrenmusters
Bei der Beurteilung des Gefahrenmusters Neuschnee solltet ihr euch die folgenden Fragen stellen:

1. Ist der Abbauprozess am laufen?
2. Sind Lockerschneelawinen möglich?
3. Ist Bindung im Schnee vorhanden?
4. Gibt es einen möglichen Gleithorizont?
5. Kritische Neuschneemenge?

Wie gesagt, der entscheidende Faktor ist die Zeit und im Zweifel hilft nur abwarten, auch wenn das Wochenende noch so schön angesagt ist. Eine gute Entscheidungshilfe stellt die „Kritische Neuschneemenge" nach W. Munter dar:

30-50 cm bei günstigen Bedingungen
20-30 cm bei mittleren Bedingungen
10-20 cm bei ungünstigen Bedingungen

Günstige Bedingungen sind:

  • kein oder kaum Windeinfluss
  • Temperaturen im Bereich von +/- 0° C, vor allem zu Beginn des Schneefalls
  • Regen in Schnee übergehend

Ungünstige Bedingungen sind:

  • starker Wind um 50 km/h
  • tiefe Temperaturen unter – 8°C
  • ungünstiger Untergrund (Eis, Reif, Schmelzharsch, Graupel)

Typische Alarmzeichen für das Erreichen der kritischen Neuschneemenge sind frische Schneebrettlawinen (spontan oder durch Zusatzbelastung ausgelöst), Fernauslösungen, „Wumm"-Geräusche und Risse in der Schneedecke beim Betreten.

Die Verbreitung der Gefahrenstellen ist meist flächig und nimmt mit zunehmender Seehöhe zu. Da die Gefahrenstellen aufgrund der flächigen Verbreitung nicht umgangen werden können, ist abwarten zwischen 1-3 Tage die sicherste Verhaltensempfehlung.

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