Freetouring-Abenteuer in Kamchatka - Teil II

Freetouring-Abenteuer in Kamchatka - Teil II

Von Martin Blum am 30.Nov. 2017

Kamchatka sagt den meisten Freeride-Interessierten spätestens seit Travis Rice‘ „The Fourth Phase“ was, seitdem können viele Freerider die Halbinsel zumindest grob geografisch einordnen. Dort gewesen sind aber nur die Allerallerwenigsten. Wir nervten unsere Freundin und professionelle Reiseführerin Alla schon lange damit, dass wir ihr Heimatland endlich kennenlernen wollten. Alla Ganster Skitour und Fotoreisen Kamchatka ist auf Skitour- und Fotoreisen im Kamchatkagebiet spezialisiert. Ursprünglich von dort stammend lebt sie mittlerweile verheiratet im Zillertal. Und nachdem wir lange genug genervt hatten, lud sie schließlich einen engen Freundeskreis ein, ihr Heimatland zu entdecken. Was den abenteuerlustigen Freetourer auf der russischen Halbinsel erwartet, lest ihr hier im mehrteiligen Tripreport von Martin Blum.

Alla will uns das wilde russische Hinterland zeigen. Im Sommer kennt sie es wie ihre Westentasche. Doch im Winter liegen über dem weiten flachen Land mit langen Tälern zwischen den einzelnen Vulkanen bis zu 12 Meter Schnee. Einzige mit viel Aufwand zivilisierbar zu machende Stelle ist eine Sommer-Ranger Hütte zwischen den Vulkanen Gorely und Mudnowsky. 70 km entfernt von jeder Stelle, an der man im Winter überleben kann. Ja, es führt eine einzelne Strasse bis auf zehn Kilometer hin. Denn dies ist die Hauptstraße in den Süden, da steht das Kraftwerk von Kamchatka: Ein Geothermiekraftwerk am Nordostfuß des Mudnowsky. Nur knapp fünf Kilometer weg von Petropawlowsk liegt diese Straße bis Juni noch unter einer zwei Meter dicken Schneeschicht. Versorgungsfahrten gibt es ein paar Mal die Woche, da verwandeln LKWs mit Allrandantrieb die erst noch matschige Straße in eine für alles andere unbefahrbare Matschrille und graben sich dann einfach mit ihren Reifen über den kompakten Schnee, auf dem flachen Unterboden schleifend. In Gängen, die bei europäischen Kraftfahrzeugen wohl in etwa einem Zehntel des ersten Ganges entsprechen.

Das Konzept um zu der Ranger-Hütte zu gelangen sieht folgendermaßen aus: Mit den Jeeps soweit es geht in diesen Matschrillen - es ging nicht weit. Und dann auf vier Skidoos - zwei davon mit Anhänger – umsatteln. Wir packten unsere Skidoos und nahmen mit: Flaschenweise Gas für den Herd (Ja, unsere geniale Köchin Elya begleitete uns auch hierher), Holz (denn woher sollten wir in der weißen Wüste Heizmaterial bekommen), einen ganzen Schlitten wunderbare sibirische Rohkost für unseren viertägigen Aufenthalt und unser Skitourenmaterial. Die Bergführer und zwei von uns hängten sich noch mit dem Strick an die Schlitten, der Rest hatte sitzend oder stehend Platz.

Wer sind eigentlich diese Jungs, die uns mit dem Skidoo fahren? Zu allererst sind sie jedenfalls verdammt cool. Schwarz gekleidet von oben bis unten, wie in Motorrad-Kleidung nur ohne Helm und mit fetter Goggle. Jeder hat einen anderen Marken oder Plagiat-Skidoo und kennt sich natürlich aus als wäre er schon 900.000 Kilometer damit gefahren. Und das nicht nur über Schnee. Dass diese Erfahrungen durchaus hilfreich waren, konnten wir schon nach wenigen Kilometern live erleben… Obwohl der matschige und schnell nur noch durch zwei Rinnen im Schnee erkennbare Weg immer nah war, befanden wir uns voll im Hinterland. Lärchen aller Größen, Steinbirken, Bach- und Flußläufe, schräge Abhänge, zu steile Passagen für die schwer beladenen Schlitten. Oder tief eingewehte Rinnen, in denen der Skidoo nur mit Tricks Traktion bekam. An schwierigen Stellen coachte man sich gegenseitig, schob mit an oder leitete den Schlitten über eine Schneebrücke über Bäche oder aber stützte ihn gegen das Kippen in Löcher. Dabei hatte jeder der Skidoo-Ranger seine eigenen Methoden für genau seinen Skidoo.

Eine angenehme russische Eigenschaft übrigens: Pläne gibt es nicht mehr für alles, das war früher. Und es ist schön ohne Plan. Dann passiert halt schon mal was. Aber da fängt der Russe erst an, Spaß zu haben, während der zivilisierte Europäer wildgestikulierend "kaputt" und "Oh Gott" ruft. Jetzt erst wird die Kreativität entwickelt, wie man es lösen könnte. Muss ja nicht für immer sein. Es muss nur das Gefühl da sein, dass es weiter geht. Kracht es nochmal, dann kann man ja wieder kreativ werden. Ich möchte zukünftig in jedem Entwicklungsteam, das große Dinge bewegen soll, einen Russen haben. Der springt an, wenn alle anderen verzweifeln.

So ist uns das zum Beispiel mit einer Anhängerkupplung passiert. Gebrochen. Drei Leute zurück lassen? Mitten im Schneesturm? Proviant, Heizmaterial oder unsere Ausrüstung zurücklassen? Nein, die Anhängerkupplung wird einfach anders herum eingebaut, einseitig belastet gefahren und als sie nochmals bricht kurzerhand durch ein Seil und später durch nochmal ein anderes ersetzt. Dabei gilt die eiserne Regel: Ein Problem ist das Problem des Skidoo-Fahrers, an dessen Kupplung es gebrochen ist. Er - und nur er - darf kreativ werden. Die anderen stehen ohne blöde Sprüche bei ihm, warten und helfen - wenn er es will. Er darf selbst machen und entscheiden wie es weitergeht. Es gab natürlich einen, "das Walroß", der wohl erfahrener war. Aber auch er hatte die Klappe nicht mehr offen als die anderen. Und er kümmerte sich ohnehin um das Wichtigste, um unsere Elya. Die es echt geschafft hatte, bei der achtstündigen Fahrt größtenteils auf dem Rücken vom Walroß ... zu schlafen!

Acht Stunden Fahrt brachten uns sukzessive ins stürmische Hinterland, in dem dann alle Pflanzen verschwanden, keine Spuren mehr zu sehen waren. Über Pässen und Tälern hing ein ständiger Whiteout. Nur Streckenweise konnten wir uns an den Stromleitungen des Kraftwerks orientieren. Sonst Weiß. Totales Weiß. Immer wieder mussten wir an kürzeren oder längeren Steigungen die Schlitten abhängen, die Skidoos zogen die Schlitten dann einzeln und wir schlurften durch den Schnee nach oben - oder fuhren angeschnallt nach unten.

Wir sprachen erst später darüber - aber jeder machte sich zum ersten Mal im Leben Gedanken über seine Risikobereitschaft. Wir waren eine Tagesreise entfernt von jeder Zivilisation. Eine sehr beschwerliche Tagesreise, die man nur mit bester Fitness bestehen könnte. Würde man krank werden oder sich ernsthaft verletzten würde es zwei Tage dauern, jemanden nach Petropawlowsk zu bringen. Und das Krankenhaus dort kann nicht alles, das würde im Ernstfall bedeuten auf das nächste Flugzeug zu warten und in die Sanitätszelle eingeladen zu werden. Danach käme ein Flug von acht Stunden durch zehn Zeitzonen nach Moskau. Dort gäbe es dann endlich Versorgung. Das sollte man nicht riskieren, weil man es wohl kaum überleben würde. Selbst ein kleiner Ast im Bauch oder der Skistock irgendwo könnten tödlich enden. Ja, wir hatten mit Satellitentelefon und Notfall-Diensten vorgesorgt. Aber wären die auf der anderen Seite so gut organisiert, die Expeditionsgruppe ausfindig zu machen? Hört der Sturm irgendwann einmal auf, so dass ein Heli kommen könnte? Wahrscheinlich nicht. Die einzige Lösung bleibt also, dass nichts passiert - wir blieben also letztlich jede Sekunde hochkonzentriert. Auch nach acht Stunden aufreibender Fahrt durch das Whiteout.

Die Hütte war ein recht neuer Bau, aber wohl nie fertig geworden und auch mit schon wieder undichtem Dach. Gut geplant war sie so gebaut, dass sie nicht eingeschneit wurde, dafür halt dem Wind ausgesetzt da stand. Auch im Whiteout. 20 Meter von der Haustüre gab es eine kleine Holzspitze, die etwa einen halben Meter aus dem Schnee empor ragte - das Klo! Zwei von uns machten sich heldenhaft daran, es freizulegen und auch noch zu renovieren, so dass wir die vier Tage das sauberste Hüttenklo hatten, das ich je gesehen habe. Dazu hatten die beiden zwar zwei der frisch erworbenen Wodka-Flaschen benötigt, aber das hat sich nun wirklich rentiert!

Was folgte waren sibirische Tage mit einigen Skitouren auf die umliegenden Vulkane. Elya hatte noch mehr als vorher zu tun – wir waren ja 13 Personen und sie schlief immer dann, wenn wir gerade ein traumhaftes Essen hatten und den Möglichkeiten nachgingen, die einem der Wodka verleiht…

Das Wildlife stand hier beinahe still. Kein einziger Busch oder Stamm, kein Insekt, kein Vogel. Doch auf den Skitouren trafen wir immer wieder auf Schneehasen. Äußerst hübsche Bengel, die den Menschen auch noch nicht als Bedrohung identifizieren. Und - als Konterpart - stand eines Nachts ein Fuchs vor der Türe. Der hatte schon eher Respekt. Doch das vom langen Winter genauso ausgehungerte wie prachtvolle Tier kämpfte aus Angst zu verhungern gegen die Angst, gefangen zu werden, an und schlich immer wieder um uns herum.

Bei gutem Wetter ließen wir es dann auch schon mal krachen mit den Skidoos: Ohne Gepäck mit großem Karacho über die verblasenen Weiten an einem der schönen Vulkane. Hinauftouren (denn den Skidoos wurde es schnell zu steil), Abfahrt auf einer anderen Seite, wo uns am Nachmittag mit freiem Oberkörper die Skidoo-Ranger erwarteten. Elya hatte schon wieder Brotzeit hergerichtet, die mit Lachs, Kaviar und Heilbutt in der zivilisierten Welt eher ein sündhaft teures Buffet gewesen wäre. Und mit Wodka begleitet wurde.

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