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Vor über 30 Jahren wurde der konservativ aufgestellte Wintertourismus in der Schweiz in seinen Grundfesten erschüttert. Zwei mittlerweile ergraute Sunnyboys brachten den Skate- und Surf-Spirit von Kalifornien in den Schnee und lösten eine kulturelle Revolution in den Skigebieten aus.

Reto Poltéra ist 53 Jahre alt und geht am liebsten mit Cap und Hoody vor die Tür. Der ehemalige Snowboardprofi, hat Familie, Kinder und einen gutdotierten Job im Management der Schweizer Aktiengesellschaft Weisse Arena Gruppe. Sein Kollege, Reto Gurtner, 67, von einer Schweizer Zeitung zum „Rockstar unter den Seilbahnbesitzern“ ernannt, ist Präsident des Unternehmens. Wer nun denkt: „typisch Schweiz – Karriere, Kohle, gutes Ansehen“, der kennt die Geschichte der beiden Schweizer Rebellen mit ihrem „Hang loose“-Image noch nicht.

Und diese Geschichte beginnt so: In jungen Jahren verbrachten Poltéra und Gurtner unabhängig voneinander sehr viel Zeit in Kalifornien – dort lebten sie ihren amerikanischen Traum, führten ein ungezwungenes Leben und gingen ihren Leidenschaften, Sufen, Skaten und Snowboarden nach – Sportarten, die zur konservativen Schweiz der 1980er Jahre ungefähr genauso gut passten, wie das Matterhorn zu Nordseeküste.

Zu Hause in der Schweiz erlitt derweil Gurtners Vater einen Hirnschlag. Der Sohn musste ihn von heute auf morgen als Seilbahnbesitzer ersetzen. Vorbei der kalifornische Traum, zurück in der heimischen Realität. Im Gepäck aber eine Vision, die den alpinen Wintersport in den kommenden Jahrzehnten grundlegend revolutionieren sollte: den Surfer-Spirit der Westküste über ein konservatives Bergdorf stülpen. Poltéra folgte ihm im zarten Alter von 23 hoch hinaus in die Bergwelt rund um Laax. „Statt langweilig-glatte Pisten wollten wir Snowparks mit Steilkurven, Schanzen und allen möglichen und unmöglichen Obstacles“, erzählt Poltéra. Ein Schweizer Skiresort kann man sich zu dieser Zeit jedoch ähnlich konservativ vorstellen wie ein katholisches Schweigekloster. „Die Verantwortlichen damals dachten alle, wir Snowboarder würden den ganzen Tag nur Kicker bauen und kiffen“, sagt der 53-Jährige und lacht.

Freestyle: Junge Wintersportler sind heutzutage alles außer dogmatisch

Reto ist heute 53. 30 Jahre, nachdem er als junger, wilder Snowboarder seiner Vision folgte, leitet er heute das Ressort Education & Equipment in der Weisse Arena Gruppe, die die Destination Flims Laax Falera touristisch vermarktet. Und Laax ist längstens DIE Referenz in Sachen Schneespaß. Nicht nur für Snowboarder, sondern genauso für Skifahrer. „Ich spreche nicht nur vom Snowboarden, sondern vom Freestyle. Ob Snowboard oder Ski – eigentlich sind das zwei verschiedene Geräte, mit denen man das Gleiche machen kann: Spaß haben. Uns geht es darum, jungen Menschen das zu geben, was sie wollen: Gemeinsam eine gute Zeit verbringen und etwas Sinnvolles zu machen, anstatt irgendwo rumzuhängen und Unfug anzustellen.“

Ein sehr verantwortungsvoller Ansatz, dem auch Andri Ragettli aus dem Nachbardorf Flims, 24 Jahre alt und Freestyle-Weltstar, gefolgt ist. „Wenn Laax nicht auf Freestyle gesetzt hätte, wäre ich wohl Skirennfahrer oder Fußballer geworden. Ich bin aber sehr froh, dass ich so viel Glück hatte und in Laax mit diesen riesigen Snowparks aufgewachsen bin“, sagt Ragettli, der noch nicht mal geboren war, als die beiden Retos Laax zu dem machten, was es heute ist. Ragettli, X-Games Gewinner, Weltmeister und Olympionike im Freeski, ist der erste Mensch, der den Quadruple Cork 1980 auf Skiern gestanden hat. Ein Trick, für den man einen mindestens 25 Meter großen Kicker benötig. Dabei geht es in der Luft fünfeinhalbmal um die Längsachse und viermal um die Querachse – Salto mortale brutale quasi! Oder vereinfacht gesagt: vom Vollwaschgang ab in den Smoothie-Maker.

Ragettli ist ein Modellathlet mit einem Trainingspensum wie ein Profifußballer, Vorbild für zahlreiche Kids und eines der Aushängeschilder des Snowparks in Laax. „Alles was ich mache, ist darauf ausgerichtet, ein besserer Freeskier zu werden. Das bedeutet auch sechs Mal die Woche zu trainieren“, sagt Ragettli. Seine Karriere verdankt er mitunter den beiden Pisten-Revoluzzern Reto und Reto, denn hätten diese die aalglatten Skiabfahrten in Laax nicht in spaßige Hindernisparcours verwandelt, hätte Andri den Vollwaschgang wohl nie trainiert. „Ich bin extrem dankbar, dass die beiden schon vor so vielen Jahren an Freestyle geglaubt haben – das ist extrem inspirierend und visionär. In einer Zeit, wo niemand etwas von Freestyle wissen wollte. Auch als ich die Sportart wechselte wurde mir gesagt, dass ich damit nie etwas erreichen werde, da die Sportart keine Zukunft habe.“

Heute zählt Ragettli zu den größten seines Sports, fliegt durch die Weltgeschichte und hat dabei doch nie seine Wurzeln vergessen. „Es ist ein schönes Gefühl, wenn ich nach meinen Wettkämpfen endlich nach Hause komme und den allerbesten Snowpark vor der Tür habe. Viele Athleten haben diese Möglichkeit nicht. Das schätze ich sehr.“ Sein nächstes Ziel? „Olympiagold 2026. Alles andere habe ich schon erreicht“, sagt Ragettli selbstbewusst. 2026 wäre ein gutes Jahr, seine Karriere auch olympisch zu vergolden. Denn die Winterspiele in Mailand und Cortina d'Ampezzo tragen ihre Freestyle Wettbewerbe im lombardischen Livigno aus, gleich um die Ecke von Laax. Ein Heimspiel quasi.

Publiziert in Reports