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Mittwoch, 19 Januar 2022 13:12

Interview: Lena Stoffel & Mitch Tölderer

Die unberührten hochalpinen Naturlandschaften der Alpen sind in Gefahr, da ihre Erschließung durch Skigebietserweiterungen und deren Infrastruktur stetig voranschreitet. Der Film "Vanishing Lines" erzählt die Geschichte der letzten unberührten Naturräume, die von dieser Zerstörung bedroht sind. Er handelt davon, sich für den Schutz der Naturlandschaften, die wir noch retten können, einzusetzen. Wir haben Lena Stoffel und Mitch Tölderer, die beiden Hauptakteure des Dokumentarfilms, zum Interview getroffen.

Hallo Lena und Mitch, wo seid ihr beide im Augenblick und womit beschäftigt ihr euch gerade?
Lena: Seit zwei Jahren lebe ich in Patsch, einem Dorf auf eintausend Metern Höhe vor den Toren Innsbrucks. In den letzten Tagen hat es geschneit und der Winter hält Einzug. Ich bereite also meine Ausrüstung vor und werde heute wahrscheinlich ein bisschen in den Wald gehen und eine Skitour hier im Tal machen.

Mitch: Und ich bin hier bei mir zu Hause in Innsbruck, gerade zurück vom Snowboarden mit meiner Familie in einem kleinen Skigebiet, hier, auf unserem Hausberg.

Wie sieht die alpine Gegend aus, in der ihr lebt?
Mitch: Der nächstgelegene Gebirgszug, der praktisch vor meiner Haustüre liegt, ist rau, steil und wird von drei kleinen Skigebieten eingerahmt. Das Backcountry dort ist nicht so einfach, weshalb es dort auch immer noch ruhig ist, besonders im Winter.

Lena: Die Gegend um Innsbruck ist ziemlich einzigartig. Du hast eine Menge Berge, welche die Stadt in alle Richtungen umgeben. Du hast das Karwendelgebirge im Norden, das mit der Nordkette beginnt und dann in sehr wilde, makellose und steile Berge übergeht. Dann gibt es noch die Südseite von Innsbruck und all die Täler dort, die auch sehr ländlich und schön sind. Natürlich gibt es hier auch viele tolle Skigebiete und Gletscher.

Wie wichtig sind das Backcountry und unberührte Gebiete für euch und eure lokale Community?
Mitch: Das ist sehr wichtig für mich, würde ich sagen! Ich glaube, die Menschen, die hier leben, sind schon immer gerne im Sommer gewandert und im Winter auf Skitour gegangen – aber in den letzten zehn Jahren ist die Zahl der Neulinge, was diese Aktivitäten betrifft, deutlich gestiegen. Ich glaube, wir sind alle auf der Suche nach dem Gleichen: eine Aktivität in einer ruhigen, natürlichen Umgebung als Ausgleich zu der zunehmend technologiegesteuerten und sich schneller drehenden Welt, in der wir leben.

Lena: Das Backcountry ist für mich auch sehr wichtig, weil ich dort meine Ruhe finde. Ein Ort der Kraft. Ein Ort der Ruhe. Ein Ort der Geschichte und Kultur. Es gibt mir ein Gefühl der Zugehörigkeit. Diese Orte mit Respekt zu entdecken und zu erleben, macht einem klar, dass man sie unberührt lassen muss, wenn man nach Hause geht. Ich denke, für die Menschen in Innsbruck ist es etwas ganz Besonderes, weil sie alles vor der Haustüre haben. Aber ich denke auch, dass man verstehen muss, dass diese Orte geschützt werden müssen und sie nicht durch Massentourismus zerstört werden dürfen. Die lokale Community muss sie schützen und sie so belassen, wie sie sind, denn wir alle profitieren so sehr von ihnen.

Wie seid ihr vom Skifahren und Snowboarden in Skigebieten zum Backcountry gekommen? Und wann war der Moment, in dem euch klar wurde, dass das euer Fokus bzw. eure Leidenschaft ist?
Mitch: Als ich vor mehr als 30 Jahren vom Skifahren zum Snowboarden wechselte, wurde tiefer, frischer Neuschnee richtig interessant. Ich habe dann angefangen abseits der Pisten in Skigebieten zu fahren und bin mit Schneeschuhen weitergewandert, um ein bisschen weiter zu gelangen. Ich habe es schon immer geliebt, im Backcountry zu fahren und als ich dann gesponsert wurde, konnte ich auf Filmtrips gehen, bei denen wir Hubschrauber benutzten, die uns Zugang zu den Lines unserer Träume verschafften. Vor zwölf Jahren etwa, habe ich dann wieder angefangen, mich auf die heimischen Berge zu konzentrieren. Das war auch der Moment in dem mich das Erkunden des Backcountry mit eigener Muskelkraft zu interessieren begann. Der Zugang mit dem Heli war in Österreich keine wirkliche Option, also schnitt ich eines meiner Boards in zwei Hälften und baute mein erstes Splitboard, um ins Backcountry zu gelangen und nach guten Lines zu suchen. Mit ein paar Freunden habe ich angefangen, an einem Freeride-Film mit dem Titel „HIKE: A Freeride Project In The Austrian Alps“ zu arbeiten. Seitdem war ich süchtig und die Dinge haben sich seit jeher weiter in diese Richtung entwickelt.

Lena: Ich bin mit Skifahren, in Skigebieten und Alpinrennen, aufgewachsen. Aber meine Eltern haben uns (meinen Bruder und mich) auch von klein auf zum Fahren im Pulverschnee mitgenommen. Für mich war es immer das Beste, wenn es im Skigebiet Pulverschnee gab. Der Freestyle-Teil des Sports und die damit verbundene Szene hier in Innsbruck haben mir immer mehr gezeigt, was Skifahren für mich bedeutet. Es ging schon immer darum, draußen in den Bergen zu sein, die kalte und frische Luft zu atmen, aber auch darum, sie mit gleichgesinnten Freunden und der Familie zu teilen. Es war für mich ein natürlicher Übergang zuerst von der Wettkampfseite des alpinen Rennsports zu Slopestyle- und Freeride-Wettbewerben und dann ins Backcountry und zu naturverbundenen Foto- und Filmprojekten. Ich konzentriere mich zunehmend auf Touring-Projekte in Ländern wie Norwegen oder Japan. Aber jetzt habe ich auch hier in Patsch weitere tolle Touring-Möglichkeiten in meiner Umgebung entdeckt.

Was ist eurer Meinung nach das Besondere an unberührten Bergregionen?
Mitch: Nur 7% der Fläche Österreichs gelten als naturbelassen oder weitgehend unberührt. Der allergrößte Teil dieser 7% befindet sich in hochalpinen Gebieten. Diese letzten verbliebenen, natürlichen Hochgebirgsregionen werden zunehmend durch Infrastrukturprojekte unter Druck gesetzt. Sie sind die deshalb mitunter die letzten unberührten Gebiete, die wir für uns, unsere Kinder und die Natur erhalten können.

Lena, du sagst in Vanishing Lines, dass man sich von den Bergen „so umrahmt“ fühlt. Kannst du etwas genauer erklären, was du damit meinst?
Lena: Das Gefühl, das unberührte alpine Orte mir geben, ist so besonders. Es ist schwer zu beschreiben, aber es sind kraftvolle und glückliche Orte. Die Berge rahmen den Ort ein, an dem du dich gerade aufhältst. Es kann super rau, beängstigend und groß sein, aber gleichzeitig ist es ruhig und die Berge umgeben und erden dich. Für mich ist es vor allem ein Ort, an dem ich mich gut aufgehoben und beschützt fühle.

Im Film ist von Lobbyarbeit für die Natur die Rede, ist das Teil deiner Arbeit? Wie können wir der Natur eine Stimme geben?
Lena: Ich versuche, der Natur durch meine Leidenschaft für die Fotografie und natürlich durch den Sport und die Orte, an die mich der Sport führt, eine Stimme zu geben. Ich schöpfe so viel Kraft aus der Natur, dass ich versuche, dies in meine Kanäle zu übertragen und einzufangen, was ich erlebe. Im besten Fall hoffe ich, dass es andere motiviert und ermutigt, respektvoll mit der Natur umzugehen.

Die Diskussion in Vanishing Lines über die Erweiterung des Resorts läuft schon eine ganze Weile. Mitch, kannst du uns den Hintergrund dazu erklären?
Mitch: „Das größte zusammenhängende Gletscherskigebiet in Europa“ – das ist der Werbetitel, der zwei Skigebiete in Tirol, Österreich, zum Zusammenschluss ermuntert. Die Skigebiete Pitztaler Gletscher und Ötztaler Gletscher/Sölden planen ein riesiges Bauprojekt, das die beiden Gebiete verbinden soll. Der Bau würde die natürliche Landschaft dramatisch verändern, da er zum Teil direkt auf Gletschergelände in über 2.800 Metern Höhe ausgeführt werden soll. Die geplante Erweiterung würde sich vom 'Mittelberg' im Pitztal über das Griestal bis zum 'Linker Fernerkogel' erstrecken, einem unberührten Berg mit drei Gletschern. Das Projekt Pitztal-Ötztal droht die Fläche, die in ihrem natürlichen Zustand verbleibt, weiter zu reduzieren. Zu den geplanten Bauprojekten gehören: drei neue Seilbahnen, ein dreistöckiges Seilbahnzentrum, ein asphaltierter Speicherteich, zusätzliche Beschneiungsanlagen, mehr als vier Kilometer neue Straßen, die Planierung, Überschüttung und Abtragung von 72 Hektar gewachsenem Gletscher sowie Pläne zur Schleifung eines Berggrats um 40 Höhenmeter. Der Bau des Skigebiets würde eine natürliche Gletscherlandschaft unwiederbringlich zerstören. Durch starke Eingriffe würden viele Lebensräume verloren gehen.

Könnt ihr uns ein wenig darüber erzählen, warum ihr dieses Filmprojekt gestartet habt und wie der Prozess ablief?
Mitch: Meine Reise, die mich zu diesem Filmprojekt geleitet hat, begann vor etwa sieben Jahren. Ein unberührtes Tal in der Arlbergregion, das seit Jahrzehnten von Einheimischen und Besuchern aus dem Ausland für seine Schönheit im Winter und im Sommer geschätzt wird, sollte durch den Plan, eines der größten Skigebiete Österreichs zu erweitern, zerstört werden. Damals war mir klar, dass dieses wunderschöne Tal unwiderruflich verloren sein würde, wenn es erst einmal zerstört ist. Also habe ich darüber nachgedacht, ein Filmprojekt zu diesem Thema zu starten, um die Freeride- und Backcountry-Community zu informieren und zu mobilisieren.

Lena: Ich dachte, dass die Kombination aus Mitch, der Snowboard fährt und eine Familie hat, in Verbindung mit meiner Perspektive vom Skifahren und dem Aufwachsen mit diesem Sport ganz gut war. Ich fand es also sehr spannend, Teil des Projekts zu sein und zu zeigen, wie gut wir es hier in meiner Heimat haben, aber auch hinter die Kulissen zu schauen, wie frustrierend und verheerend die Pläne sind und was sie mit den letzten verbliebenen Naturräumen hier anstellen würden. Ich hatte das Gefühl, dass es eine gute Sache ist, für diese Orte einzustehen und zu veranschaulichen, wie sie mir Kraft geben.

Was habt ihr bei den Dreharbeiten zu diesem Film gelernt?
Lena: Ich glaube, ich habe eine Menge darüber gelernt, welche Auswirkungen es hat, überhaupt Skilifte zu bauen. Welche Straßen gebaut werden müssen und was dabei eigentlich alles zerstört wird. Auch das Skifahren in den leeren Skigebieten in der letzten Saison, als COVID zur Schließung einiger dieser führte, war ziemlich aufschlussreich. Wenn man bedenkt, wie viel Infrastruktur dafür nötig ist und wie deplatziert sie auf den Bergen aussehen, wenn sie nicht genutzt werden, fühlt sich das nicht richtig an. Das Wichtigste, was ich daraus mitnehme, ist, dass wir mit diesen Bergen und den Skigebieten, die wir haben, gesegnet sind - dass sie uns die Möglichkeit geben, Ski zu fahren und die wunderschöne Natur zu genießen. Aber wir brauchen nicht mehr davon. Es ist nicht notwendig, zu expandieren, aber es ist notwendig, die Gebiete, die wir haben, nachhaltiger zu machen und die kleinen Gebiete zu unterstützen.

Das Projekt wurde in Österreich gedreht, aber das Problem ist nicht nur ein örtlich bedingtes Problem. Was erhofft ihr euch von diesem Film, wenn er in weiteren Teilen von Europa gezeigt wird?
Mitch: Ich hoffe, dass dieser Film einen Beitrag zum Nachdenken, zur Diskussion, zur Reaktion und zum Handeln leisten kann, um das zu schützen, was von unserer natürlichen Bergwildnis noch übrig ist.

Lena: Ich erhoffe mir, dass der Film erstens die Schönheit der Naturräume zeigt und hervorhebt, inwiefern diese uns bereichern, und zweitens, dass er die Zerstörung und die drohenden Schäden der Ausbaupläne für die Natur und für uns aufzeigt.

Was erhofft ihr euch vom Publikum, um den Kampf gegen diese Ausbaupläne zu unterstützen? Oder um ihre eigenen lokalen Naturräume zu schützen?
Mitch: Ich hoffe, dass wir das Publikum für die Auswirkungen, die weitere Ausbauten in diesen Naturräumen haben würden, sensibilisieren können. Jeder, dem etwas daran liegt, kann sich online über anstehende Projekte informieren und eine Petition unterschreiben oder eine Diskussion zum Schutz seiner lokalen Naturräume starten.

Lena: Ich hoffe, sie setzen sich für die Orte ein, die sie lieben. Ich hoffe, dass sie hinausgehen und die Natur mit Respekt erleben und ihre Erfahrungen und die Bereicherung durch diese Naturräume mit anderen teilen. Und ich hoffe natürlich auch, dass sie Petitionen unterzeichnen und sich zu Wort melden!

Dann bleibt uns nur, euch viel Erfolg zu wünschen! Vielen Dank, dass ihr euch für uns Zeit genommen habt.

Publiziert in People