No Expectations!

No Expectations!

Von sophieoettl am 5.Feb. 2024

Halleluja! Das waren doch locker schon 500 Höhenmeter. Wann endet diese Rinne? Bin ich am Exit vorbeigefahren? Die Beine brennen. Der kalte Pulverschnee staubt ins Gesicht. Die Ski surfen ungehindert durch den leichten, bodenlosen Powder, während die Schwerkraft mich im 45° steilen Hang weiter beschleunigt. Schwerelos, frei, voll im Moment. Ah, da vorne links kommt der Ausgang. Noch die letzten Meter straightlinen und einen Faceshot gönnen, dann endlich anhalten. Mein Blick schweift vom tiefen Blau des Meeres zum glitzernden Weiß des Gipfels, von dem ich vor einigen Sekunden gestartet bin – 1.300 Meter über mir! Und ganz unten sind wir immer noch nicht! Der beste Run meines Lebens? Definitiv! Ich werde von meinen Glücksgefühlen übermannt, muss schreien und lachen. Spüre ich da sogar eine Träne auf meiner Wange? Muss das kalte Wetter sein.

Vor 2 Monaten hätten wir von solchen Momenten nicht einmal zu träumen gehofft. Damals saßen wir bei Regen und frühlingshaften Temperaturen in Disentis und planten die kommenden 3 Monate. Diese sollten nämlich zur besten Saison unseres Lebens werden. Wir, das sind Ricardo, Finn und ich. Alle drei frisch mit dem Militärdienst bzw. Arbeit oder Uni fertig, und zum ersten Mal in unserem Leben frei für den ganzen Winter. Der Plan war dementsprechend mit Dirty Harry, dem alten Camper von Finns Opa, den besten Schnee und die steilsten Lines in den Alpen zu jagen. Doch es kam anders, denn die Alpen erlebten den schlechtesten Winter seit Jahrzehnten.

Immerhin war Anfang Januar für die Westalpen ein erster Schneesturm vorhergesagt, weshalb wir uns Richtung Chamonix auf den Weg machten. Doch bereits der erste Run runter von der Aiguille du Midi war mit einem 100 Höhenmeter langen Tomahawk über Blankeis oberhalb von einer Felswand eine ernüchternde Erfahrung und zeigte uns, dass aufgeblasene Egos und Selbstüberschätzung tödlich enden können. Wir mussten uns eingestehen, dass das Gelände ein komplett anderes Kaliber ist als die Schweizer Alpen und deshalb auch die Konsequenzen von Fehlern um ein Vielfaches höher sind. Auch war der Schnee mittelmäßig und der Powderstress extrem. So verbrachten wir einige Tage auf der Argentière Hütte, um dort klassische Steepskiing-Lines zu machen. An den Wochenenden füllten jeweils fast doppelt so viele Bergsportler den Winterraum, sodass der gesamte Schuhraum im Laufe der Nacht zum zweiten Schlafsaal mutierte. Auch die Abfahrten durch die steilen Faces sind der reinste Menschenslalom. Trotzdem konnten wir einige größere Lines machen, wie z.B. den Col des Cristaux oder das Y-Couloir des Aiguille Argentière (3898m).

Aber das Highlight dieses Trips waren definitiv die 3 Powdertage in Skyway Monte Bianco, an der Punta Helbronner. Die Bergbahn, welche auf 3462m endet, ist der reinste Traum, für schwindelfreie Freerider, die offene steile Hänge lieben. Ein Skilift, der dich vom Parkplatz ohne Umwege direkt in das Hochalpine befördert. Einfach geil!

Das warme Wetter, der starke Wind und unser schlechter Gesundheitszustand zwangen uns jedoch Ende Januar, Chamonix den Rücken zu kehren.  Nach einer Woche ausruhen daheim war für die östlichen Alpen Schnee vorhergesagt, weshalb wir mit Dirty Harry Richtung Innsbruck fuhren.

Wir verstanden recht schnell, dass wir in den kommerziellen Skigebieten Österreichs nicht auf unsere Kosten kommen würden. Exzessiver Après-Ski, Verbote und Absperrungen und endlos lange Liftschlangen waren einfach etwas zu viel Kulturschock auf einmal, wenn man die Freiheiten Chamonixs gewohnt war. Zu Gast bei Freunden verbrachten wir drei Wochen zwischen WG-Sofas und netten Studentenkneipen. Tagsüber wurde vor allem das Karwendel mit seinen unzähligen engen und verwinkelten Couloirs unsicher gemacht. Ein toller Spielplatz, doch auch hier rollte eine Warmfront ohne absehbares Ende rein, was Ende Februar bei Mehrseillängen in kurzen Hosen und T-Shirt bereits nach einem endgültigen Sommeranfang aussah.

Niedergeschlagen entschieden wir uns, der miserablen Situation in den Alpen nordwärts zu entfliehen. Denn schlimmer als in den Alpen konnte es ja wohl nicht sein. Notfalls würden wir da oben fischen und Bier trinken. Um unsere Erwartungen tief zu halten, prüften wir aber nie den Wetterbericht oder die Schneevorhersage. So rasten wir 5 Tage lang mit 80 km/h 3500 km nach Norden. Nach einer gebrochenen Windschutzscheibe, einem überfahrenen Dachs und 4 Jo Nesbö Krimis erreichten wir Lyngen. Wir parkten am Rand der schneebedeckten Straße und mummelten uns in die dicken Schlafsäcke, gespannt, was die nächsten Wochen bringen würden.

Als wir am nächsten Morgen begrüsste uns klirrende Kälte und 60 cm frischer Powder. Ohne genau zu wissen wohin, liefen wir hinter dem Camper den Hügel hoch. Run für Run hatten wir an diesem Tag den besten Treerun unseres Lebens. Und dies sollte so bleiben. Im Grunde glich jeder Tag dem anderen. Wir standen auf, wenn es im Schlafsack langsam zu kalt wurde, drehten die Heizung auf Vollgas, um Dirty Harry von -10°C auf kuschlige 5°C zu bringen und, sobald der Gefrierpunkt überwunden war, brühten wir uns den ersten Kaffee. Gut gestärkt stürzten wir uns in das kalte Wetter und begannen durch die endlosen, flachen Täler mit ihren kümmerlichen Birken in Richtung eines Couloirs durch den tiefen Schnee zu spuren. Die Couloirs stellten eine ganz neue Herausforderung dar, denn der kalte, ungebundene Pulverschnee lag meistens so tief in den Lines, dass Bootpacking ohne Auftriib Platten schlicht unmöglich gewesen wäre. Oben an der Line hieß es jeweils schnell umrüsten, einen unglaublich guten Pow Run zu ergattern und anschließend den langen, flachen Weg zu Dirty Harry wieder zurücklaufen. Da angekommen, muss zunächst wieder fleißig geheizt werden, bevor wir uns Polarbröd mit Hering und viel Butter gönnen. Der Abend wird, nachdem die Line für den nächsten Tag ausgesucht wurde, beim Lernen, Lesen, Philosophieren oder Hörspielhören mit einem eher klaren White Russian in der Hand ausgeklungen. Life is good – jedenfalls bis etwa Ein Uhr, wenn der Camper wieder den Gefrierpunkt erreicht und wir in unseren Schlafsäcken bereits dem nächsten warmen Kaffee entgegenfiebern.

Allmählich wurde allerdings unser Wunsch nach einer Dusche größer, und unsere leeren Gasflaschen und Essensvorräte mussten aufgefüllt werden, weshalb wir nach Tromsø, der nördlichsten Stadt der Welt, aufbrachen. Dort konnten wir nicht nur Dirty Harry mit den für die stets mit Blankeis überzogenen Straßen essenziellen Spikereifen ausrüsten und unsere Vorräte auffüllen, sondern lernten auch schnell einige der outdoorbegeisterten Locals kennen. Bei ihnen konnten wir uns duschen und sie zeigten uns traumhafte Treeruns und endlose Couloirs sowie das rege Nachtleben von Tromsø.

Und wie das so ist, wenn die Grundbedürfnisse alle gedeckt sind, fängt man an, etwas abzudrehen. Höher, weiter, schneller, vor allem schneller war hoch im Kurs! Wie etwa, wenn man den anderen beim Couloir hochhiken weder hört noch sieht, weil einen gerade der Mega-Spindrift überrollt hat und vor dem Weiterlaufen ein einfaches „Alles klar“ ausreichend Diskussionsgrundlage fürs Weitergehen ist. Oder wenn du deinem Kumpel, der ganz vernünftig nach Chamonix-Lehrbuch am Einstieg eines 600 Höhenmeter Couloirs einen angeseilten Skicut machen will, um die Schneedecke auf Herz und Nieren zu testen, zur Antwort gibst: „Also, wenn es dir nichts ausmachen würde, würde ich das Couloir einfach straightlinen.“

Letztes Jahr haben wir gesehen, wie wichtig es ist, keine Erwartungen zu haben und positiv überrascht zu werden. Wir hatten in Norwegen die beste Zeit unseres Lebens. Nun sitzen wir wieder in Disentis und packen Dirty Harry für den nächsten Norwegentrip. Dieses Mal aber voller Erwartungen. Mal schauen, was wird…

Skiers: Finn Schauer, Ricardo Flepp, Andri Bieger

Guest Skiers: Flurina Bieger, Markus Boss, Vali Werner-Tutschku, Victor Heim, Eline Lunde.

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