Freerideskischuhe Kaufberatung

Von Marius Schwager am 7.Jan. 2016

Irgendwo zwischen Aufstieg und Abfahrt treffen sich zwei Schuhwelten. Eine Aufstiegsfunktion ist für den modernen Pistencarver das, was für den Skialpinisten die Abfahrtsperformance. Weich und beweglich versus harte Performance. Freerideskischuhe sind in aller Munde, die Modellpalette ist in den letzten wenigen Jahren fast exponentiell gewachsen. Dieser Artikel soll euch eine Entscheidungshilfe geben, und das nötige Wissen vermitteln, auf was ihr bei der Schuhwahl achten solltet. Wir begeben uns auf die Suche nach dem heiligen Freerideskischuhgral.


Der Skischuh, egal ob Rennskischuh, Freerideskischuh, oder Tourenschuh ist das wohl wichtigste Ausrüstungsstück beim Skifahren für ordentliche Performance. Ein guter Schuh passt wie angegossen, und man möchte gar nicht mehr aussteigen. Ein schlechter Schuh ist einer, der dem Träger nicht passt, und Schmerzen verursacht. Blasen durch einen zu weiten Schuh beim Gehen, Krämpfe durch einen zu engen Schuh sind Zeichen, dass euch der Schuh nicht passt. Ein guter Händler lässt euch viele Schuhe viele Minuten lang anprobieren. Und das ist auch nötig. Auf was achten wir dabei? Folgende Punkte solltet ihr bei einem Freeride-Skischuhkauf beachten, um unbeschwertes Fußglück zu erfahren.

Die entscheidenden Kriterien
Schale: Die Schale macht den Skischuh. Passt dem Fahrer die Schale nicht zum Fuß des Trägers ist alles andere Jammern hinfällig. Ein guter Händler gibt hier nicht nur die Leistenbreite am Vorderfuß an, sondern weiß um die Fersenbreite und Risthöhe seiner Modelle Bescheid und/oder hat die Möglichkeit einen 3-D-Scan und Abgleich vorzunehmen. Ob drei- oder zweischaliger Aufbau besser oder schlechter ist, sollte man am besten selbst testen. Mehr Auswahl gibt es derzeit bei den Zweischalern.

Flex: Die vertikal distale – also das „gerade nach vorne flexen“ – Härte bzw. Steifigkeit wird oft als Referenz zur allgemeinen Steifigkeit und Beugung gesehen. Seitlich sollten Skischuhe generell wenig bis kein Nachgeben zulassen, nach vorne wird eine progressive Steifigkeit (also erst weich und härter werdend) als am Angenehmsten empfunden. Viele Aufstiegsfähige Skischuhe sind leider eher sehr weich und (bzw. oder) degressiv. Rennskischuhe dagegen sind hart und progressiv (= oftmals gewünscht). Je leichter der Fahrer, desto geringe Härtewerte werden benötigt. Mittelschwere, sehr gute Fahrer nutzen gerne den Referenzwert 100, Rennskifahrer nutzen meist Schuhe mit 130-170 Flex. Alle Flexangaben der Hersteller sind nicht geeicht, nicht unabhängig getestet und nicht vergleichbar. Wärme lässt Skischuhe weicher flexen,  Kälte erhärtet das Material.

Zusammenhang Flex/Schale: Tendenziell werden härtere Skischuhe oft mit schmalerer Leistenbreite angeboten als dies bei weichere Schuhe der Fall ist, da dies eher der Anatomie eines sportlichen Fahrers entspricht.

Sohle: Freerideschuhe schwanken zwischen den Sohlenwelten einer gummierten, abriebfesten Sohle und der harten Alpinbindung-Plastiksohle. Oftmals wird die gummierte Sohle als Vibram-Sohle nach der gleichnamigen Marke betitelt. Beachtet werden sollte, dass der Einsatzzweck der Sohle und die Kompatibilität mit der verwendeten Bindung passt. Nicht alle Alpinbindungen kommen mit den oft dickeren Vibramsohlen zurecht. Eine höhenverstellbare Bindung hilft in diesem Fall. Einige Sohlen sind großteils gummiert, mit punktuellen Plastikeinsätzen versehen, damit die Schuhe auch in alle Alpinbindungen passen. Je aufstiegsorienterter man in den Bergen aktiv ist, desto angenehmer und sinnvoller sind leicht "gerockerte" Gummisohlen. Je abfahrtsorientierter, desto besser sind flache Plastiksohlen.

Kompatibilität: Die beiden Bindungskonzepte Alpin- und Techsystem haben eigene Anforderungen an die verwendeten Skischuhe. In einigen aufstiegsfähigen Alpinbindungen sind beide Systeme zugelassen, in anderen Bindungen funktioniert es theoretisch nicht, praktisch aber "irgendwie". Die Auslösewerte und evtl. die Funktion können hier jedoch abweichen. Die Sondersysteme Dynafit Beast und Trab Tr2 brauchen wiederum spezielle Schuhe (nur sehr wenige Modelle vorhanden).

Zusammenhang Sohle/Kompatibilität: Klassisch haben Tourenschuhe Gummsohlen und Tech-Inserts, Alpinschuhe haben klassische Plastiksohlen zur verzerrungsfreien Auslösung. Beide Systeme können beliebig kombiniert werden und machen je nach verwendeter Bindung mehr oder weniger Sinn. Beim Kauf eines Schuhs solltet ihr dabei die Kompatibilität und die für euch passende Sohlenart beachten.

Gehfunktion: Ein Freerideschuh wird allgemein als Skischuh zum Abfahren aber auch Aufsteigen verwendet. Eine Gehfunktion ist hierfür kein Muss, erleichtert die Aufstiegsarbeit allerdings allgemein, da eine natürlichere Beinbewegung ermöglicht wird. Tourenskischuhe haben traditionell einen meist sehr leichtgängigen und umfassenden Gehmodus, abfahrtsorientiertere Schuhe haben oft einen mäßig guten Gehmodus.

Zusammenhang Gehfunktion/Flex: Derzeit ist uns kein Freerideschuh bekannt, der eine Gehfunktion eines Tourenskischuhs mit dem angenehmen Flexverhalten eines Alpinschuhs vereint. Eine der beiden Funktionen schwächelt, manchmal mehr, manchmal weniger. Hier spalten sich die Meinungen, was für wen bei welchen Unternehmungen passt. Fragen? Meinungen? Die Community hilft euch oder ihr helft anderen bei der Entscheidungsfindung.

Schaftwinkel: Der Schaftwinkel ist der Winkel zwischen Fuß und Unterschenkel und bestimmt mit wieviel Vorlage ihr im Skischuh-Bindungs-System habt. Je weiter vorne, desto mehr Druck kann aufgebaut werden, je aufrechter, desto angenehmer ist der Schuh beim Stehen und auch Gehen.

Schnallen: Die Schnallen halten den Fuß erst richtig fest im Schuh. Ein gut passender Skischuh ist dabei aber von Haus aus fest, gut passend und braucht keine harte Zuknall-Action der Schnallen. Traditionell werden drei- oder Vierschnaller gerne verwendet, da sie deutliche Vorteile in der Passform und im Halt geben. Teilweise ist die vierte Schnalle oben als Strap verbaut. Fulltilt und einige andere Hersteller verbauen teilweise die mittlere Schnalle als Fersenschnalle. Einige lieben dieses System, andere bleiben beim klassischen Vierschnaller. Abzuraten war bislang von Zwei- oder Einschnallern. Dies mögen im Komfortbereich oder beim Skitourenrennen Vorteile haben, zum Abfahren verliert man allerdings zu viel Halt und Performance.


Innenschuh: Der Innenschuh sorgt im Idealfall für die bestmögliche Passform und ein angenehmes Arbeitsklima. Im schlechten Fall drückt er und dem Träger ist kalt oder es mufft nach wenigen Stunden bereits unangenehm. Positiv ist, wenn der Innenschuh bei Hitze etwas anpassungsfähig ist, so kann die Passform noch einmal in Feinheiten verbessert werden. Eine nicht passende Schale, kann aber auch der beste Innenschuh nicht retten. Wer Problemfüße hat, ist hier besonders auf einen guten Bootfitter angewiesen. Die Community weiß Rat, wer aktuell wo gute Arbeit leistet.

Gewicht: Die Skiracer werden schmunzeln, aber wer viel aufsteigt, weiß ein geringes Gewicht zu schätzen. Das Gewicht am Fuß wirkt etwa fünfmal so viel, wie das idente Gewicht sauber verstaut im Rucksack. Ein Kilo mehr oder weniger entscheidet nicht selten über noch eine Runde Pulvertraum oder heimgehen und heulen. Ein guter Abfahrtsschuh dagegen ist leider nicht ganz so leicht wie ein Tourenschuh, performt dafür besser (Zusammenhang: Flexqualität und Gewicht) und hält auch tendenziell länger.

Die Topmodelle und der heilige Gral
Im Winter 15/16 zeigt sich, wie auch schon im vergangenen ein Trio an der Spitze der Allround-Tourenfreerider. Scarpa Maestrale, Dynafit Khion/Mercury/Vulcan und Salomon Mtn Lab. Angegriffen wird das Dreigespann für den motivierten Freeride-Tourengeher von vielen Seiten. Und das ist auch gut so. Viele Detailverbesserungen sind am Freeride-Skischuhmarkt aufgetaucht, en heiligen Gral hat leider noch kein Hersteller entwickeln können.

Die Dichte an „Freerideschuhen“, also alle abgewandelten Alpinskischuhe mit etwas Gehfunktion und auch die Dichte an klassischen „Tourenskischuhen“ ist mittlerweile fast unüberschaubar und wird daher in diesem Artikel bewusst ausgelassen. Die klassischen Skischuhhersteller haben allesamt viele Modelle im Programm: Probieren, vergleichen und testen was am besten passt. Ein, zwei oder gar drei Dutzend Skischuhe anzuprobieren ist keine Schande. Beim Skischuhkauf entscheidet eher Zeit, Geduld und Erfahrung oftmals über Freud oder Leid am Berg. Besser ein Modell zu viel probiert und 100-200 Euro in einen guten Service investiert, als Schmerzen oder ein unpassendes Modell am Fuß für viele Skitage herumzuschleppen. Der schlaue Freeride-Schwabe spart sein Geld nicht am Skischuh, er investiert hier in ein Stück echte Lebensqualität.

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