Adventure-Freetouring in Kamchatka Teil III

Adventure-Freetouring in Kamchatka Teil III

Von Martin Blum am 5.Jan. 2018

Kamchatka ist eine sibirische Halbinsel zwischen Japan und der Behringstraße und liegt direkt auf dem Vulkanring rund um den Pazifik. Am „Ring of Fire“ ist es das Land mit den meisten aktiven Vulkanen. Entdeckt wurde Kamchatka erst sehr spät, da es auf dem Landweg nicht zu erreichen ist: riesige sibirische Permafrost- und Sumpfgebiete verhindern das. Ursprünglich gab es eine Handvoll Ureinwohner ähnlich den nordamerikanischen First Nations, besiedelt wurde Kamchatka dann von Russischstämmigen, um einen möglichst weit im Osten gelegenen Marinestützpunkt zu errichten. Heute – ungefähr zehn Jahre, nachdem Kamchatka für Nicht-Militärs geöffnet wurde – leben die knapp 180.000 Einwohner fast zur Gänze in Petropawlowsk.

Die Stadt liegt in einer Bucht und wird von nicht weniger als drei jeweils über 3.000 Meter hohen Vulkanen umrahmt. Begibt man sich in die Wildnis, so beeindrucken die großen Sumpfgegenden an den Flüssen gleichermaßen wie die farben-, flora- und artenreichen Hochebenen und Küstengebirge. Jeweils in Tagesmarschdistanz sind die unterschiedlichsten Vulkane zu erreichen. Entsprechend der nördlichen Lage stehen Bäume nur auf den unteren 100 bis 200 Höhenmetern, dann geht es schnell in Latschen über und jenseits von 500 Höhenmetern gibt es nur noch Gräser. Die Gegend ähnelt wegen der Nähe zu Hokkaido schon sehr Japan, und das nicht nur aufgrund der warmen Geysire und Abflüsse von den Vulkanen. Im Winter, der wohl dreiviertel des Jahres ausmacht, liegt eine solide fünf, oft sogar zwölf Meter hohe Schneedecke über dem ganzen höheren Land. Die letzten Schwünge in der fjordähnlichen Landschaft lassen sich in sattem Schnee bis zwei Meter an den Pazifik heran fahren…

Kamchatka ist der sehr kleine Teil der Erde, auf dem sich die meisten aktiven Vulkane befinden. Aktivitäten gab es jeder Art: Geysire, dampfende, rauchende, schwefelnde und Magma eruptierende Vulkane. Und natürlich erloschene und schlummernde. Zum Skifahren am interessantesten sind hohe erloschene Pyramiden: Bis weit in die 3000 Höhenmeter hineinragend und ganzjährig mit einer dicken Eisschicht bedeckt haben sie Flanken in alle Richtungen. Diese beginnen am Gipfel mit einer Steilheit bei 40 Grad. Für das Skitouren und Heliskiing ist dies ideal: Man kann sich die sonnigste Seite zum Hochstapfen aussuchen und fährt die runter, die schattig und (noch) pulvrig ist oder die, die gerade aufgefirnt hat. Sollte dies in den Höhen zu unterschiedlichen Zeiten sein, so wechselt man einfach beim Runterfahren alle paar hundert Höhenmeter eine Flanke nach rechts, der Sonne voraus.

Während der Gipfel noch recht klein sein kann - vielleicht hat gerade mal eine kleine Gruppe Platz - und dort ein Flanke eher dem Einstieg in ein Couloir gleicht, so werden die Flanken nach unten breiter und mehr, bis es so an die 20 riesige Flanken in alle Richtungen sind. Und überall befahrbar. Vielleicht geht gerade im oberen Bereich ein steiler Lava-Grat zwischen zwei Flanken hinab, aber dahinter lauert keine unfahrbare Wand sondern wieder ein schneeiger Vulkanhang. Auch die Bären lieben die Hänge an nicht ganz erloschenen Vulkanen wegen der Wärme. Und schon spitzte ein besonderer Winterschlafmuffel über eine Schneewächte. Als wir ihn in vermeintlich sicherem Abstand riefen "Mischa" - "Bär", blieb er eher abwartend desinteressiert. Als jedoch der Bergführer dann alleine losfuhr erhob er sich und spitzte dem separierten Einzelfresschen nach. "Lohnt sich der Sprint von der Wächte die 20 Meter den Hang hinab und dem schnell auf zwei komischen Füßen fliehenden Tier hinterher?" Da wurde uns gleich anders. Jeder kontrollierte den Sitz seiner Bindung, katapultierte den Schnee vom Cover des Skis und keiner fing mehr an im Rucksack zu kramen, damit er keinesfalls letzter ist, wenn die Gruppe sich in Bewegung setzt. So geschehen am Viljuchinsky.

Mudnovsky ist ein aktiver Vulkan im Hinterland. Dem hat es vor 20 Jahren den ganzen Innenbereich weggesprengt und ein recht imposanter hundert Meter großer und genauso tiefer Nebenkrater dampft und raucht. In dem Tal, das den Hauptkrater nach Norden tief einschneidet blubbert es wie aus einer Herzwunde - Rauch, Schwefel und Dampf speiend. Hier legten wir unser Abenteuer so an, dass wir erst über den spitzen und scharf felsigen Kraterrand von außen emporstiegen, von da in den Krater tauchten und über das imposant dampfende Tal verließen. Bizarre Formen aus Schnee stülpten sich über oder hingen an noch imposanteren Formen aus Lava. Am aktiven Krater angekommen, ließ ich es mir nicht nehmen, mit den Skiern hinein in den undefinierten und von Rauchschwaden jeder Farbtönung verschleierten Krater steil einzufahren. Die Nähe zu Schloten, die bis zu 30 cm dick gelb aus dem Boden ragen und eine Masse an giftigem Schwefel entlassen, genoss jeder für sich still ehrfurchtsvoll an einem anderen Schlund des Kraters. Im trotz des Höllenklimas meterhohen Schnee tauchen immer wieder Löcher mit blubbernden Schlammpfützen auf. Mal bläst einem der Nebel so entgegen, dass man hinein fallen hätte können, hätte man sie sich nicht vorher gemerkt. Mal steigt der Qualm scheinbar so harmlos auf, dass man sich so nah hin traut, um Schnee hinein zu werfen oder mit dem Skischuh vorsichtig hin zu klopfen. Und im nächsten Moment ist man von atemraubendem Gas umgeben und meint, der Höllenfürst selbst steigt gleich empor.

Einen anderen alten Krater mit einem (natürlich vereisten) Kratersee bestiegen wir am Gorely. Was von unten noch so aussieht, als ob man sich durch einzelne Schluchten zwischen Hügeln emporwindet, entpuppt sich vom obersten Kraterrand aus gesehen als ein massiger flacher Vulkan mit zig Nebenkratern. Der Hauptkrater mit recht senkrechten Flanken, die in allen kalten Farben schillerten und in Schichten von einer bewegten geologischen Geschichte erzählen.
Wir sind aber nicht ausschließlich aus eigener Kraft auf die Gipfel Kamchatkas gestiegen – nein, wir haben uns auch das Vergnügen von Russisch Heliskiing gegönnt! Die Gemeinde der russischen Bergführer und Heliski-Guides ist klein, aber hat herausragend erfahrene Köpfe. So ist es die gleiche Firma mit einem Franzosen und einem Russen als Geschäftsführer, die im Kaukasus und in Kamchatka das bedient, was man sich vorstellt, wenn man mit einem russischen Heli und einer russischen Besatzung frei von sicherheitsmahnenden Versicherern und Anwälten loslegen will. Es geht weit weg ins wilde Land - die Extra-Tanks, die an der Seite befestigt sind, sind ausreichend voll für einen ganzen Tag weit weg im Küstengebirge Kamchatkas.

Eine wilde Gruppe. Wir stoßen zu zweit dazu, weil ein französisches Team einen Film drehen will und besondere Ziele anfliegen wird. Wopp wopp wopp klopp klopp klopp wumm wumm wum WUMM WUMM WUMM hört es sich an, als die Maschine vom Flughafen zu uns zur Lodge kommt. Und sie sinkt beim Landen gleich mal bis zum Bauch in den Schnee ein. Die fast einen Meter großen Landeräder verschwinden komplett im Schnee. Eine MI-8 steht vor uns. Das legendäre russische Invasionsgerät, Demonstration der Schlagstärke der Hammer- und Sichel-Armee. Ein Sinnbild für "Mechanik läuft immer". Nein, sie sieht tadellos aus. Und das nicht nur außen wegen des sauberen weiß-roten Anstriches, sondern auch innen passt jede Niete und jedes Lager ist ordentlich gefettet und abgewischt. Doch für Sicherheit spricht vor allem, was aus der Maschine aussteigt: Zwei Mechaniker. Ein Bulle von einem Mann, sicher die teuerste Brille auf, die man in Moskau erstehen konnte und Ringe an den Fingern, die so groß wie Kinderunterarme waren. Der Jüngere schickt sich an, genauso auszusehen wie der Bulle. Und das reicht schon für eine Autorität: "Ich Maschine, du dankbar". Mit der Maschine verwachsen schien der Pilot. Obwohl in die Jahre gekommen, sah man ihm an: "Ich sitze hier, weil es keinen Besseren gibt. Man muss zaubern für das was wir heute machen wollen und ich habe die Zauberhände." Sonnenbrille. Hemd. Kein Helm - nur Kopfhörer. Den ganzen Tag kaum ein Ton. Ich glaube er stieg auch kein einziges Mal aus.

Das mit der großen Besatzung erklärt sich übrigens schnell: Bei jedem Start wird erstmal geschaut ob die Maschine mit allen an die Turbine angeschlossenen Energiekreisen sauber läuft. Der Mechaniker steht mit vorne in der Kanzel und erst wenn sich einer seiner Mundwinkel leicht anhebt, gibt er den Start frei.

Die Ski werden im Hubschrauber auf einem Haufen neben der Tür gelagert. Und dann begibt sich die ganze große Meute, die am Boden steht hinein?! Sechs Guides (die zwei Chefs des Unternehmens inklusive), vier Mann Besatzung, zwei Kameramänner, acht Franzosen, wir zwei und .... eine Stewardess. Dreiundzwanzig Leute plus Stewardess - ja richtig gehört. In Skiklamotten. Ich verdrängte das gleich wieder und sie fiel mir auch wirklich erst bei ihrem Einsatz später wieder auf.
Nachdem die Vorbereitung zum Abheben der Komplexität eines Raketenstarts gleicht, zieht die MI die tief eingesunken Räder wie aus Butter aus dem Schnee und donnert mit uns wie ein kleiner flinker Spatz in die Täler und bald über die Anhöhen nach Süden. Erster Anflug auf Viljuchinsky, der erloschene, spitze 2.173 Meter hohe Vulkan. Sind wir wirklich schon gelandet? Auf meiner Seite zum Bullauge raussehend sind wir locker noch fünf Meter über dem Boden. Aber schon fliegen die Ski zur Tür hinaus, das machen die Guides. Also ist die linke Seite hoffentlich am Hang, die rechte nicht. Nicht nachdenken, als erster den Skiern hinterher und ein paar Meter weg. Ich ducke mich erst wie bei den europäischen und amerikanischen Helis, bekomme aber schnell Zuversicht, dass das ob dieses riesen Helis gar nicht notwendig ist - macht niemand. Sicher stehen oder Knien reicht.

Plötzlich ist der Heli weg und die Guides sind schon längst in der Bindung. Aha - also so ein Tempo ist angesagt?! Die wollen zur Rote-Armee-Pause um 9 Uhr wohl wieder zu Hause sein. Aber ich hatte geirrt. Dieses Tempo wurde den ganzen Tag bei den acht noch folgenden Runs aufrecht erhalten.
Jetzt wird mir auch klar, wie das mit den sechs Guides funktioniert: Der Franzose und Alpha-Tier der Guides sticht mit ordentlichem Freeride-Tempo ins Tal. Er fährt die fast 2.000 Höhenmeter ohne Halt in einem durch und legt eine Spur zum Heli an, der tief unter uns wartet.

Die anderen Guides verteilen sich auf der Strecke, wie Fackelträger für Julius' Sänfte im alten Rom. Dann können die Gruppe Franzosen, die zwei Kameramänner und wir tun was wir wollen. Trödeln, ratschen, Vollgas fahren. Doch wir verlieren schon bei einem kurzen Blick und einem kurzen Austausch über den Takt beim Ausstieg fast den Anschluss. Wie ein kleiner Indianerstamm beim Pferdehetzen heulen alle so schnell sie wollen und können ins Tal.

Da wir nordseitig auf ca. 2.000 Meter des Viljuchinsky angefangen haben, war der Schnee ohne Umwandlung aber eisig und recht kompakt. In den Rinnen war eine Auflage des typischen "Höhenpulvers". Mittig gab es ein paar hundert Meter "Noch-Gefrorenes" und dann - clevere Auswahl - drehte das Tal nach Osten und war von der Sonne schon angetaut. Die MI stand in einem weiten, flachen Talgrund - natürlich ohne jegliche Zivilisation oder Bäume. Wieder keine Räder zu sehen, mit dem Bauch flach auf dem Schnee. Adrenalin und Überwältigung - Männer die mit weit aufgerissenen Augen und offenen Mündern Superlative stammeln. Gemütliches Einsteigen und das Spiel beginnt von Neuem.

Natürlich steigerten wir uns. Der Heli nahm immer schwierigere Ausstiegstellen, an denen schon lange vor dem Landeanflug die Tür mir gegenüber geöffnet wurde und der Bordmechaniker sich kniend über die Bordkante lehnte. Seine Aufgabe war es, den Piloten über Kopfhörer einzuweisen, wann denn die Räder am Boden waren. Nein - nicht richtig. Das war nie die Intention. Der Pilot suchte sich eine Zweipunkt-Lagerung aus. Dabei wird das Bugrad am höchsten Punkt aufgesetzt und wie ein Schneeanker tief nach unten gedrückt. Der Mechaniker achtet drauf, dass auch das linke Hauptrad festen Bodenkontakt bekommt. Der Rest der dicken Hummel wird mit Rotorkraft und respektabler Konzentration des Piloten teilweise sehr schräg in Position gehalten. Auch wurden die sturmähnlichen Winde in der Höhe zur Routine. Gerade noch stand der Heli nach dem Aussteigen wie zementiert neben einem in der Luft und als er sich über uns hinweg hebt, bläst eben dieser Gipfelwind - erst vom Heli abgehalten - uns auf der Stelle um und schmeißt einzelne Ski, die nicht tief genug in den Schnee gerammt waren Richtung Hang, so dass wir gleich mal nach ihnen hechten müssen. Ich sah meine leichten 116mm breiten Carbon Black Diamond Helio schon wie einen Oktoberfest -Luftballon über Sibirien schweben, war aber dann doch schnell genug…

Mehrere gefühlt endlose Runs bis über 2.000 Höhenmeter ohne Pause mit keinem Kontakt zu irgend etwas folgten. Mit Blick auf den größten Ozean der Welt und auf eine der wildesten Gegenden der Welt - das Kamchatka-Gebirge. Ein paarmal spielte ich damit, größere und noch größere und die größten Powderturns meines Lebens zu machen. Aber selbst mit achtzig/ neunzig kmh Geschwindigkeit verlieren sich Kurvenkräfte in Schwüngen, die über ganze Bergflanken gehen. Wo mir in Europa und Nordamerika kein Hang groß genug war, fühlte ich mich zum ersten Mal in meinem Skileben wirklich klein.

Wenn dann außerdem mal ein Video gedreht wird und schon einmal beide Geschäftsführer mit an Bord sind, tut sich auch gleich noch mehr: Bei jedem Anflug zeigten der brillierte Mechaniker und der extrem coole Pilot mehr Ehrgeiz und mehr Präzision an noch schmäleren und steileren Bergflanken und knapperen Ausstiegen. Der Lift-Off nachdem wir rausgesprungen waren, wurde immer energiegeladener und das Abtauchen uns voraus zur nächsten Einladestelle hatte immer mehr den Anschein, als würde sich eine fette Hummel kopfüber nach vorne ins Tal stürzen, die Rotorblätter vorne beinahe am Boden. Damit verschwand das ganze Insekt nicht nur blitzschnell hinter dem nächsten Abhang, sondern auch das laut hämmernde WUMM WUMM WUMM verstummte auf einen Schlag, die sibirische Stille trat innerhalb von Sekunden ein.

Wenn ich geglaubt hatte, bei der Auswahl der Landeflächen zum Wieder-Einsteigen ginge es wenigstens konventionell zu, wurde ich bei der Mittagspause sauber überrascht. Wir sind gerade auf einer steilen Felswand direkt über der brandenden Pazifikküste ausgestiegen, und fuhren am Grat und auf dem angrenzenden Hang hoch über einem Fjord landeinwärts, da dachte ich mir noch: "Wo will er denn in der kleinen Bucht da unten landen?" Wir sind im Rahmen unserer Skitouren vom Boot aus genau dort gewesen - ein kleiner Einschnitt in den abgeschabten Felsen, einem engen Kar ähnlich. Da war er dann aber trotzdem, der Heli. Tief im Schnee versunken. Die entspannten, hängenden Rotorblätter beidseitig nur einen halben Meter über dem Boden und knapp 3 Meter Platz beidseitig nach außen. Wie ist er in dieses Loch gekommen? Woher wusste er, dass es mit Schneedeckenhöhe, mit dem Einsinken, den Rotorblättern passen würde? Unglaublich. Und was prangte da in einzelnen Flecken unter einem Rotor hervor: Medweshi Kakashki. Wieder eine Bärenfährte mit Pranken so groß wie Schneeschuhen.

Als sich die Augen an die Situation gewöhnten und der Verstand von "wie kommen wir da wieder raus" auf "bis jetzt ging auch alles gut" umschaltete, erblickte ich.... ein komplett aufgebautes Buffet. Krimsekt, ganze Lachshälften kiloweise Kaviar vom Rotlachs, Heilbutt, süße russische Knabbereien, getrocknetes und geräuchertes rohes Fleisch in handlichen Stücken. Für die Hand eines Mechanikers mit 2 Meter Körpergröße. Das war also der Einsatz unserer Stewardess in Schneeklamotten. Ab diesem kräftigen Buffet - das Adrenalin war weggeblasen und der Insulinspiegel hatte das Regiment übernommen - ging der Tag dann zäher von statten. Couloir-ähnliche Gipfel-Grate des Vulkanes in weit über 2.000 Meter Höhe brachten aber das Adrenalin zurück. Es war ja nicht nur Spass hier. Es war ja auch was zu tun.

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