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Freitag, 05 Januar 2018 19:56

Adventure-Freetouring in Kamchatka Teil III

Kamchatka ist eine sibirische Halbinsel zwischen Japan und der Behringstraße und liegt direkt auf dem Vulkanring rund um den Pazifik. Am „Ring of Fire“ ist es das Land mit den meisten aktiven Vulkanen. Entdeckt wurde Kamchatka erst sehr spät, da es auf dem Landweg nicht zu erreichen ist: riesige sibirische Permafrost- und Sumpfgebiete verhindern das. Ursprünglich gab es eine Handvoll Ureinwohner ähnlich den nordamerikanischen First Nations, besiedelt wurde Kamchatka dann von Russischstämmigen, um einen möglichst weit im Osten gelegenen Marinestützpunkt zu errichten. Heute – ungefähr zehn Jahre, nachdem Kamchatka für Nicht-Militärs geöffnet wurde – leben die knapp 180.000 Einwohner fast zur Gänze in Petropawlowsk.

Die Stadt liegt in einer Bucht und wird von nicht weniger als drei jeweils über 3.000 Meter hohen Vulkanen umrahmt. Begibt man sich in die Wildnis, so beeindrucken die großen Sumpfgegenden an den Flüssen gleichermaßen wie die farben-, flora- und artenreichen Hochebenen und Küstengebirge. Jeweils in Tagesmarschdistanz sind die unterschiedlichsten Vulkane zu erreichen. Entsprechend der nördlichen Lage stehen Bäume nur auf den unteren 100 bis 200 Höhenmetern, dann geht es schnell in Latschen über und jenseits von 500 Höhenmetern gibt es nur noch Gräser. Die Gegend ähnelt wegen der Nähe zu Hokkaido schon sehr Japan, und das nicht nur aufgrund der warmen Geysire und Abflüsse von den Vulkanen. Im Winter, der wohl dreiviertel des Jahres ausmacht, liegt eine solide fünf, oft sogar zwölf Meter hohe Schneedecke über dem ganzen höheren Land. Die letzten Schwünge in der fjordähnlichen Landschaft lassen sich in sattem Schnee bis zwei Meter an den Pazifik heran fahren…

Kamchatka ist der sehr kleine Teil der Erde, auf dem sich die meisten aktiven Vulkane befinden. Aktivitäten gab es jeder Art: Geysire, dampfende, rauchende, schwefelnde und Magma eruptierende Vulkane. Und natürlich erloschene und schlummernde. Zum Skifahren am interessantesten sind hohe erloschene Pyramiden: Bis weit in die 3000 Höhenmeter hineinragend und ganzjährig mit einer dicken Eisschicht bedeckt haben sie Flanken in alle Richtungen. Diese beginnen am Gipfel mit einer Steilheit bei 40 Grad. Für das Skitouren und Heliskiing ist dies ideal: Man kann sich die sonnigste Seite zum Hochstapfen aussuchen und fährt die runter, die schattig und (noch) pulvrig ist oder die, die gerade aufgefirnt hat. Sollte dies in den Höhen zu unterschiedlichen Zeiten sein, so wechselt man einfach beim Runterfahren alle paar hundert Höhenmeter eine Flanke nach rechts, der Sonne voraus.

Während der Gipfel noch recht klein sein kann - vielleicht hat gerade mal eine kleine Gruppe Platz - und dort ein Flanke eher dem Einstieg in ein Couloir gleicht, so werden die Flanken nach unten breiter und mehr, bis es so an die 20 riesige Flanken in alle Richtungen sind. Und überall befahrbar. Vielleicht geht gerade im oberen Bereich ein steiler Lava-Grat zwischen zwei Flanken hinab, aber dahinter lauert keine unfahrbare Wand sondern wieder ein schneeiger Vulkanhang. Auch die Bären lieben die Hänge an nicht ganz erloschenen Vulkanen wegen der Wärme. Und schon spitzte ein besonderer Winterschlafmuffel über eine Schneewächte. Als wir ihn in vermeintlich sicherem Abstand riefen "Mischa" - "Bär", blieb er eher abwartend desinteressiert. Als jedoch der Bergführer dann alleine losfuhr erhob er sich und spitzte dem separierten Einzelfresschen nach. "Lohnt sich der Sprint von der Wächte die 20 Meter den Hang hinab und dem schnell auf zwei komischen Füßen fliehenden Tier hinterher?" Da wurde uns gleich anders. Jeder kontrollierte den Sitz seiner Bindung, katapultierte den Schnee vom Cover des Skis und keiner fing mehr an im Rucksack zu kramen, damit er keinesfalls letzter ist, wenn die Gruppe sich in Bewegung setzt. So geschehen am Viljuchinsky.

Mudnovsky ist ein aktiver Vulkan im Hinterland. Dem hat es vor 20 Jahren den ganzen Innenbereich weggesprengt und ein recht imposanter hundert Meter großer und genauso tiefer Nebenkrater dampft und raucht. In dem Tal, das den Hauptkrater nach Norden tief einschneidet blubbert es wie aus einer Herzwunde - Rauch, Schwefel und Dampf speiend. Hier legten wir unser Abenteuer so an, dass wir erst über den spitzen und scharf felsigen Kraterrand von außen emporstiegen, von da in den Krater tauchten und über das imposant dampfende Tal verließen. Bizarre Formen aus Schnee stülpten sich über oder hingen an noch imposanteren Formen aus Lava. Am aktiven Krater angekommen, ließ ich es mir nicht nehmen, mit den Skiern hinein in den undefinierten und von Rauchschwaden jeder Farbtönung verschleierten Krater steil einzufahren. Die Nähe zu Schloten, die bis zu 30 cm dick gelb aus dem Boden ragen und eine Masse an giftigem Schwefel entlassen, genoss jeder für sich still ehrfurchtsvoll an einem anderen Schlund des Kraters. Im trotz des Höllenklimas meterhohen Schnee tauchen immer wieder Löcher mit blubbernden Schlammpfützen auf. Mal bläst einem der Nebel so entgegen, dass man hinein fallen hätte können, hätte man sie sich nicht vorher gemerkt. Mal steigt der Qualm scheinbar so harmlos auf, dass man sich so nah hin traut, um Schnee hinein zu werfen oder mit dem Skischuh vorsichtig hin zu klopfen. Und im nächsten Moment ist man von atemraubendem Gas umgeben und meint, der Höllenfürst selbst steigt gleich empor.

Einen anderen alten Krater mit einem (natürlich vereisten) Kratersee bestiegen wir am Gorely. Was von unten noch so aussieht, als ob man sich durch einzelne Schluchten zwischen Hügeln emporwindet, entpuppt sich vom obersten Kraterrand aus gesehen als ein massiger flacher Vulkan mit zig Nebenkratern. Der Hauptkrater mit recht senkrechten Flanken, die in allen kalten Farben schillerten und in Schichten von einer bewegten geologischen Geschichte erzählen.
Wir sind aber nicht ausschließlich aus eigener Kraft auf die Gipfel Kamchatkas gestiegen – nein, wir haben uns auch das Vergnügen von Russisch Heliskiing gegönnt! Die Gemeinde der russischen Bergführer und Heliski-Guides ist klein, aber hat herausragend erfahrene Köpfe. So ist es die gleiche Firma mit einem Franzosen und einem Russen als Geschäftsführer, die im Kaukasus und in Kamchatka das bedient, was man sich vorstellt, wenn man mit einem russischen Heli und einer russischen Besatzung frei von sicherheitsmahnenden Versicherern und Anwälten loslegen will. Es geht weit weg ins wilde Land - die Extra-Tanks, die an der Seite befestigt sind, sind ausreichend voll für einen ganzen Tag weit weg im Küstengebirge Kamchatkas.

Eine wilde Gruppe. Wir stoßen zu zweit dazu, weil ein französisches Team einen Film drehen will und besondere Ziele anfliegen wird. Wopp wopp wopp klopp klopp klopp wumm wumm wum WUMM WUMM WUMM hört es sich an, als die Maschine vom Flughafen zu uns zur Lodge kommt. Und sie sinkt beim Landen gleich mal bis zum Bauch in den Schnee ein. Die fast einen Meter großen Landeräder verschwinden komplett im Schnee. Eine MI-8 steht vor uns. Das legendäre russische Invasionsgerät, Demonstration der Schlagstärke der Hammer- und Sichel-Armee. Ein Sinnbild für "Mechanik läuft immer". Nein, sie sieht tadellos aus. Und das nicht nur außen wegen des sauberen weiß-roten Anstriches, sondern auch innen passt jede Niete und jedes Lager ist ordentlich gefettet und abgewischt. Doch für Sicherheit spricht vor allem, was aus der Maschine aussteigt: Zwei Mechaniker. Ein Bulle von einem Mann, sicher die teuerste Brille auf, die man in Moskau erstehen konnte und Ringe an den Fingern, die so groß wie Kinderunterarme waren. Der Jüngere schickt sich an, genauso auszusehen wie der Bulle. Und das reicht schon für eine Autorität: "Ich Maschine, du dankbar". Mit der Maschine verwachsen schien der Pilot. Obwohl in die Jahre gekommen, sah man ihm an: "Ich sitze hier, weil es keinen Besseren gibt. Man muss zaubern für das was wir heute machen wollen und ich habe die Zauberhände." Sonnenbrille. Hemd. Kein Helm - nur Kopfhörer. Den ganzen Tag kaum ein Ton. Ich glaube er stieg auch kein einziges Mal aus.

Das mit der großen Besatzung erklärt sich übrigens schnell: Bei jedem Start wird erstmal geschaut ob die Maschine mit allen an die Turbine angeschlossenen Energiekreisen sauber läuft. Der Mechaniker steht mit vorne in der Kanzel und erst wenn sich einer seiner Mundwinkel leicht anhebt, gibt er den Start frei.

Die Ski werden im Hubschrauber auf einem Haufen neben der Tür gelagert. Und dann begibt sich die ganze große Meute, die am Boden steht hinein?! Sechs Guides (die zwei Chefs des Unternehmens inklusive), vier Mann Besatzung, zwei Kameramänner, acht Franzosen, wir zwei und .... eine Stewardess. Dreiundzwanzig Leute plus Stewardess - ja richtig gehört. In Skiklamotten. Ich verdrängte das gleich wieder und sie fiel mir auch wirklich erst bei ihrem Einsatz später wieder auf.
Nachdem die Vorbereitung zum Abheben der Komplexität eines Raketenstarts gleicht, zieht die MI die tief eingesunken Räder wie aus Butter aus dem Schnee und donnert mit uns wie ein kleiner flinker Spatz in die Täler und bald über die Anhöhen nach Süden. Erster Anflug auf Viljuchinsky, der erloschene, spitze 2.173 Meter hohe Vulkan. Sind wir wirklich schon gelandet? Auf meiner Seite zum Bullauge raussehend sind wir locker noch fünf Meter über dem Boden. Aber schon fliegen die Ski zur Tür hinaus, das machen die Guides. Also ist die linke Seite hoffentlich am Hang, die rechte nicht. Nicht nachdenken, als erster den Skiern hinterher und ein paar Meter weg. Ich ducke mich erst wie bei den europäischen und amerikanischen Helis, bekomme aber schnell Zuversicht, dass das ob dieses riesen Helis gar nicht notwendig ist - macht niemand. Sicher stehen oder Knien reicht.

Plötzlich ist der Heli weg und die Guides sind schon längst in der Bindung. Aha - also so ein Tempo ist angesagt?! Die wollen zur Rote-Armee-Pause um 9 Uhr wohl wieder zu Hause sein. Aber ich hatte geirrt. Dieses Tempo wurde den ganzen Tag bei den acht noch folgenden Runs aufrecht erhalten.
Jetzt wird mir auch klar, wie das mit den sechs Guides funktioniert: Der Franzose und Alpha-Tier der Guides sticht mit ordentlichem Freeride-Tempo ins Tal. Er fährt die fast 2.000 Höhenmeter ohne Halt in einem durch und legt eine Spur zum Heli an, der tief unter uns wartet.

Die anderen Guides verteilen sich auf der Strecke, wie Fackelträger für Julius' Sänfte im alten Rom. Dann können die Gruppe Franzosen, die zwei Kameramänner und wir tun was wir wollen. Trödeln, ratschen, Vollgas fahren. Doch wir verlieren schon bei einem kurzen Blick und einem kurzen Austausch über den Takt beim Ausstieg fast den Anschluss. Wie ein kleiner Indianerstamm beim Pferdehetzen heulen alle so schnell sie wollen und können ins Tal.

Da wir nordseitig auf ca. 2.000 Meter des Viljuchinsky angefangen haben, war der Schnee ohne Umwandlung aber eisig und recht kompakt. In den Rinnen war eine Auflage des typischen "Höhenpulvers". Mittig gab es ein paar hundert Meter "Noch-Gefrorenes" und dann - clevere Auswahl - drehte das Tal nach Osten und war von der Sonne schon angetaut. Die MI stand in einem weiten, flachen Talgrund - natürlich ohne jegliche Zivilisation oder Bäume. Wieder keine Räder zu sehen, mit dem Bauch flach auf dem Schnee. Adrenalin und Überwältigung - Männer die mit weit aufgerissenen Augen und offenen Mündern Superlative stammeln. Gemütliches Einsteigen und das Spiel beginnt von Neuem.

Natürlich steigerten wir uns. Der Heli nahm immer schwierigere Ausstiegstellen, an denen schon lange vor dem Landeanflug die Tür mir gegenüber geöffnet wurde und der Bordmechaniker sich kniend über die Bordkante lehnte. Seine Aufgabe war es, den Piloten über Kopfhörer einzuweisen, wann denn die Räder am Boden waren. Nein - nicht richtig. Das war nie die Intention. Der Pilot suchte sich eine Zweipunkt-Lagerung aus. Dabei wird das Bugrad am höchsten Punkt aufgesetzt und wie ein Schneeanker tief nach unten gedrückt. Der Mechaniker achtet drauf, dass auch das linke Hauptrad festen Bodenkontakt bekommt. Der Rest der dicken Hummel wird mit Rotorkraft und respektabler Konzentration des Piloten teilweise sehr schräg in Position gehalten. Auch wurden die sturmähnlichen Winde in der Höhe zur Routine. Gerade noch stand der Heli nach dem Aussteigen wie zementiert neben einem in der Luft und als er sich über uns hinweg hebt, bläst eben dieser Gipfelwind - erst vom Heli abgehalten - uns auf der Stelle um und schmeißt einzelne Ski, die nicht tief genug in den Schnee gerammt waren Richtung Hang, so dass wir gleich mal nach ihnen hechten müssen. Ich sah meine leichten 116mm breiten Carbon Black Diamond Helio schon wie einen Oktoberfest -Luftballon über Sibirien schweben, war aber dann doch schnell genug…

Mehrere gefühlt endlose Runs bis über 2.000 Höhenmeter ohne Pause mit keinem Kontakt zu irgend etwas folgten. Mit Blick auf den größten Ozean der Welt und auf eine der wildesten Gegenden der Welt - das Kamchatka-Gebirge. Ein paarmal spielte ich damit, größere und noch größere und die größten Powderturns meines Lebens zu machen. Aber selbst mit achtzig/ neunzig kmh Geschwindigkeit verlieren sich Kurvenkräfte in Schwüngen, die über ganze Bergflanken gehen. Wo mir in Europa und Nordamerika kein Hang groß genug war, fühlte ich mich zum ersten Mal in meinem Skileben wirklich klein.

Wenn dann außerdem mal ein Video gedreht wird und schon einmal beide Geschäftsführer mit an Bord sind, tut sich auch gleich noch mehr: Bei jedem Anflug zeigten der brillierte Mechaniker und der extrem coole Pilot mehr Ehrgeiz und mehr Präzision an noch schmäleren und steileren Bergflanken und knapperen Ausstiegen. Der Lift-Off nachdem wir rausgesprungen waren, wurde immer energiegeladener und das Abtauchen uns voraus zur nächsten Einladestelle hatte immer mehr den Anschein, als würde sich eine fette Hummel kopfüber nach vorne ins Tal stürzen, die Rotorblätter vorne beinahe am Boden. Damit verschwand das ganze Insekt nicht nur blitzschnell hinter dem nächsten Abhang, sondern auch das laut hämmernde WUMM WUMM WUMM verstummte auf einen Schlag, die sibirische Stille trat innerhalb von Sekunden ein.

Wenn ich geglaubt hatte, bei der Auswahl der Landeflächen zum Wieder-Einsteigen ginge es wenigstens konventionell zu, wurde ich bei der Mittagspause sauber überrascht. Wir sind gerade auf einer steilen Felswand direkt über der brandenden Pazifikküste ausgestiegen, und fuhren am Grat und auf dem angrenzenden Hang hoch über einem Fjord landeinwärts, da dachte ich mir noch: "Wo will er denn in der kleinen Bucht da unten landen?" Wir sind im Rahmen unserer Skitouren vom Boot aus genau dort gewesen - ein kleiner Einschnitt in den abgeschabten Felsen, einem engen Kar ähnlich. Da war er dann aber trotzdem, der Heli. Tief im Schnee versunken. Die entspannten, hängenden Rotorblätter beidseitig nur einen halben Meter über dem Boden und knapp 3 Meter Platz beidseitig nach außen. Wie ist er in dieses Loch gekommen? Woher wusste er, dass es mit Schneedeckenhöhe, mit dem Einsinken, den Rotorblättern passen würde? Unglaublich. Und was prangte da in einzelnen Flecken unter einem Rotor hervor: Medweshi Kakashki. Wieder eine Bärenfährte mit Pranken so groß wie Schneeschuhen.

Als sich die Augen an die Situation gewöhnten und der Verstand von "wie kommen wir da wieder raus" auf "bis jetzt ging auch alles gut" umschaltete, erblickte ich.... ein komplett aufgebautes Buffet. Krimsekt, ganze Lachshälften kiloweise Kaviar vom Rotlachs, Heilbutt, süße russische Knabbereien, getrocknetes und geräuchertes rohes Fleisch in handlichen Stücken. Für die Hand eines Mechanikers mit 2 Meter Körpergröße. Das war also der Einsatz unserer Stewardess in Schneeklamotten. Ab diesem kräftigen Buffet - das Adrenalin war weggeblasen und der Insulinspiegel hatte das Regiment übernommen - ging der Tag dann zäher von statten. Couloir-ähnliche Gipfel-Grate des Vulkanes in weit über 2.000 Meter Höhe brachten aber das Adrenalin zurück. Es war ja nicht nur Spass hier. Es war ja auch was zu tun.

Publiziert in Reports
Donnerstag, 30 November 2017 15:51

Freetouring-Abenteuer in Kamchatka - Teil II

Kamchatka sagt den meisten Freeride-Interessierten spätestens seit Travis Rice‘ „The Fourth Phase“ was, seitdem können viele Freerider die Halbinsel zumindest grob geografisch einordnen. Dort gewesen sind aber nur die Allerallerwenigsten. Wir nervten unsere Freundin und professionelle Reiseführerin Alla schon lange damit, dass wir ihr Heimatland endlich kennenlernen wollten. Alla Ganster Skitour und Fotoreisen Kamchatka ist auf Skitour- und Fotoreisen im Kamchatkagebiet spezialisiert. Ursprünglich von dort stammend lebt sie mittlerweile verheiratet im Zillertal. Und nachdem wir lange genug genervt hatten, lud sie schließlich einen engen Freundeskreis ein, ihr Heimatland zu entdecken. Was den abenteuerlustigen Freetourer auf der russischen Halbinsel erwartet, lest ihr hier im mehrteiligen Tripreport von Martin Blum.

Alla will uns das wilde russische Hinterland zeigen. Im Sommer kennt sie es wie ihre Westentasche. Doch im Winter liegen über dem weiten flachen Land mit langen Tälern zwischen den einzelnen Vulkanen bis zu 12 Meter Schnee. Einzige mit viel Aufwand zivilisierbar zu machende Stelle ist eine Sommer-Ranger Hütte zwischen den Vulkanen Gorely und Mudnowsky. 70 km entfernt von jeder Stelle, an der man im Winter überleben kann. Ja, es führt eine einzelne Strasse bis auf zehn Kilometer hin. Denn dies ist die Hauptstraße in den Süden, da steht das Kraftwerk von Kamchatka: Ein Geothermiekraftwerk am Nordostfuß des Mudnowsky. Nur knapp fünf Kilometer weg von Petropawlowsk liegt diese Straße bis Juni noch unter einer zwei Meter dicken Schneeschicht. Versorgungsfahrten gibt es ein paar Mal die Woche, da verwandeln LKWs mit Allrandantrieb die erst noch matschige Straße in eine für alles andere unbefahrbare Matschrille und graben sich dann einfach mit ihren Reifen über den kompakten Schnee, auf dem flachen Unterboden schleifend. In Gängen, die bei europäischen Kraftfahrzeugen wohl in etwa einem Zehntel des ersten Ganges entsprechen.

Das Konzept um zu der Ranger-Hütte zu gelangen sieht folgendermaßen aus: Mit den Jeeps soweit es geht in diesen Matschrillen - es ging nicht weit. Und dann auf vier Skidoos - zwei davon mit Anhänger – umsatteln. Wir packten unsere Skidoos und nahmen mit: Flaschenweise Gas für den Herd (Ja, unsere geniale Köchin Elya begleitete uns auch hierher), Holz (denn woher sollten wir in der weißen Wüste Heizmaterial bekommen), einen ganzen Schlitten wunderbare sibirische Rohkost für unseren viertägigen Aufenthalt und unser Skitourenmaterial. Die Bergführer und zwei von uns hängten sich noch mit dem Strick an die Schlitten, der Rest hatte sitzend oder stehend Platz.

Wer sind eigentlich diese Jungs, die uns mit dem Skidoo fahren? Zu allererst sind sie jedenfalls verdammt cool. Schwarz gekleidet von oben bis unten, wie in Motorrad-Kleidung nur ohne Helm und mit fetter Goggle. Jeder hat einen anderen Marken oder Plagiat-Skidoo und kennt sich natürlich aus als wäre er schon 900.000 Kilometer damit gefahren. Und das nicht nur über Schnee. Dass diese Erfahrungen durchaus hilfreich waren, konnten wir schon nach wenigen Kilometern live erleben… Obwohl der matschige und schnell nur noch durch zwei Rinnen im Schnee erkennbare Weg immer nah war, befanden wir uns voll im Hinterland. Lärchen aller Größen, Steinbirken, Bach- und Flußläufe, schräge Abhänge, zu steile Passagen für die schwer beladenen Schlitten. Oder tief eingewehte Rinnen, in denen der Skidoo nur mit Tricks Traktion bekam. An schwierigen Stellen coachte man sich gegenseitig, schob mit an oder leitete den Schlitten über eine Schneebrücke über Bäche oder aber stützte ihn gegen das Kippen in Löcher. Dabei hatte jeder der Skidoo-Ranger seine eigenen Methoden für genau seinen Skidoo.

Eine angenehme russische Eigenschaft übrigens: Pläne gibt es nicht mehr für alles, das war früher. Und es ist schön ohne Plan. Dann passiert halt schon mal was. Aber da fängt der Russe erst an, Spaß zu haben, während der zivilisierte Europäer wildgestikulierend "kaputt" und "Oh Gott" ruft. Jetzt erst wird die Kreativität entwickelt, wie man es lösen könnte. Muss ja nicht für immer sein. Es muss nur das Gefühl da sein, dass es weiter geht. Kracht es nochmal, dann kann man ja wieder kreativ werden. Ich möchte zukünftig in jedem Entwicklungsteam, das große Dinge bewegen soll, einen Russen haben. Der springt an, wenn alle anderen verzweifeln.

So ist uns das zum Beispiel mit einer Anhängerkupplung passiert. Gebrochen. Drei Leute zurück lassen? Mitten im Schneesturm? Proviant, Heizmaterial oder unsere Ausrüstung zurücklassen? Nein, die Anhängerkupplung wird einfach anders herum eingebaut, einseitig belastet gefahren und als sie nochmals bricht kurzerhand durch ein Seil und später durch nochmal ein anderes ersetzt. Dabei gilt die eiserne Regel: Ein Problem ist das Problem des Skidoo-Fahrers, an dessen Kupplung es gebrochen ist. Er - und nur er - darf kreativ werden. Die anderen stehen ohne blöde Sprüche bei ihm, warten und helfen - wenn er es will. Er darf selbst machen und entscheiden wie es weitergeht. Es gab natürlich einen, "das Walroß", der wohl erfahrener war. Aber auch er hatte die Klappe nicht mehr offen als die anderen. Und er kümmerte sich ohnehin um das Wichtigste, um unsere Elya. Die es echt geschafft hatte, bei der achtstündigen Fahrt größtenteils auf dem Rücken vom Walroß ... zu schlafen!

Acht Stunden Fahrt brachten uns sukzessive ins stürmische Hinterland, in dem dann alle Pflanzen verschwanden, keine Spuren mehr zu sehen waren. Über Pässen und Tälern hing ein ständiger Whiteout. Nur Streckenweise konnten wir uns an den Stromleitungen des Kraftwerks orientieren. Sonst Weiß. Totales Weiß. Immer wieder mussten wir an kürzeren oder längeren Steigungen die Schlitten abhängen, die Skidoos zogen die Schlitten dann einzeln und wir schlurften durch den Schnee nach oben - oder fuhren angeschnallt nach unten.

Wir sprachen erst später darüber - aber jeder machte sich zum ersten Mal im Leben Gedanken über seine Risikobereitschaft. Wir waren eine Tagesreise entfernt von jeder Zivilisation. Eine sehr beschwerliche Tagesreise, die man nur mit bester Fitness bestehen könnte. Würde man krank werden oder sich ernsthaft verletzten würde es zwei Tage dauern, jemanden nach Petropawlowsk zu bringen. Und das Krankenhaus dort kann nicht alles, das würde im Ernstfall bedeuten auf das nächste Flugzeug zu warten und in die Sanitätszelle eingeladen zu werden. Danach käme ein Flug von acht Stunden durch zehn Zeitzonen nach Moskau. Dort gäbe es dann endlich Versorgung. Das sollte man nicht riskieren, weil man es wohl kaum überleben würde. Selbst ein kleiner Ast im Bauch oder der Skistock irgendwo könnten tödlich enden. Ja, wir hatten mit Satellitentelefon und Notfall-Diensten vorgesorgt. Aber wären die auf der anderen Seite so gut organisiert, die Expeditionsgruppe ausfindig zu machen? Hört der Sturm irgendwann einmal auf, so dass ein Heli kommen könnte? Wahrscheinlich nicht. Die einzige Lösung bleibt also, dass nichts passiert - wir blieben also letztlich jede Sekunde hochkonzentriert. Auch nach acht Stunden aufreibender Fahrt durch das Whiteout.

Die Hütte war ein recht neuer Bau, aber wohl nie fertig geworden und auch mit schon wieder undichtem Dach. Gut geplant war sie so gebaut, dass sie nicht eingeschneit wurde, dafür halt dem Wind ausgesetzt da stand. Auch im Whiteout. 20 Meter von der Haustüre gab es eine kleine Holzspitze, die etwa einen halben Meter aus dem Schnee empor ragte - das Klo! Zwei von uns machten sich heldenhaft daran, es freizulegen und auch noch zu renovieren, so dass wir die vier Tage das sauberste Hüttenklo hatten, das ich je gesehen habe. Dazu hatten die beiden zwar zwei der frisch erworbenen Wodka-Flaschen benötigt, aber das hat sich nun wirklich rentiert!

Was folgte waren sibirische Tage mit einigen Skitouren auf die umliegenden Vulkane. Elya hatte noch mehr als vorher zu tun – wir waren ja 13 Personen und sie schlief immer dann, wenn wir gerade ein traumhaftes Essen hatten und den Möglichkeiten nachgingen, die einem der Wodka verleiht…

Das Wildlife stand hier beinahe still. Kein einziger Busch oder Stamm, kein Insekt, kein Vogel. Doch auf den Skitouren trafen wir immer wieder auf Schneehasen. Äußerst hübsche Bengel, die den Menschen auch noch nicht als Bedrohung identifizieren. Und - als Konterpart - stand eines Nachts ein Fuchs vor der Türe. Der hatte schon eher Respekt. Doch das vom langen Winter genauso ausgehungerte wie prachtvolle Tier kämpfte aus Angst zu verhungern gegen die Angst, gefangen zu werden, an und schlich immer wieder um uns herum.

Bei gutem Wetter ließen wir es dann auch schon mal krachen mit den Skidoos: Ohne Gepäck mit großem Karacho über die verblasenen Weiten an einem der schönen Vulkane. Hinauftouren (denn den Skidoos wurde es schnell zu steil), Abfahrt auf einer anderen Seite, wo uns am Nachmittag mit freiem Oberkörper die Skidoo-Ranger erwarteten. Elya hatte schon wieder Brotzeit hergerichtet, die mit Lachs, Kaviar und Heilbutt in der zivilisierten Welt eher ein sündhaft teures Buffet gewesen wäre. Und mit Wodka begleitet wurde.
Publiziert in Reports
Donnerstag, 16 November 2017 11:32

Abenteuer Freetouring in Kamchatka

Kamchatka sagt den meisten Freeride-Interessierten spätestens seit Travis Rice‘ „The Fourth Phase“ was, seitdem können viele Freerider die Halbinsel zumindest grob geografisch einordnen. Dort gewesen sind aber nur die Allerallerwenigsten. Wir nervten unsere Freundin und professionelle Reiseführerin Alla schon lange damit, dass wir ihr Heimatland endlich kennenlernen wollten. Alla Ganster Skitour und Fotoreisen Kamchatka ist auf Skitour- und Fotoreisen im Kamchatkagebiet spezialisiert. Ursprünglich von dort stammend lebt sie mittlerweile verheiratet im Zillertal. Und nachdem wir lange genug genervt hatten, lud sie schließlich einen engen Freundeskreis ein, ihr Heimatland zu entdecken. Was den abenteuerlustigen Freetourer auf der russischen Halbinsel erwartet, lest ihr hier im mehrteiligen Tripreport von Martin Blum.

Kamchatka ist eine sibirische Halbinsel zwischen Japan und der Behringstraße und liegt direkt auf dem Vulkanring rund um den Pazifik. Am „Ring of Fire“ ist es das Land mit den meisten aktiven Vulkanen. Entdeckt wurde Kamchatka erst sehr spät, da es auf dem Landweg nicht zu erreichen ist: riesige sibirische Permafrost- und Sumpfgebiete verhindern das. Ursprünglich gab es eine Handvoll Ureinwohner ähnlich den nordamerikanischen First Nations, besiedelt wurde Kamchatka dann von Russischstämmigen, um einen möglichst weit im Osten gelegenen Marinestützpunkt zu errichten. Heute – ungefähr zehn Jahre, nachdem Kamchatka für Nicht-Militärs geöffnet wurde – leben die knapp 180.000 Einwohner fast zur Gänze in Petropawlowsk.

Die Stadt liegt in einer Bucht und wird von nicht weniger als drei Vulkanen umrahmt, von denen der höchste die 3.000 Meter locker knackt. Begibt man sich in die Wildnis, so beeindrucken die großen Sumpfgegenden an den Flüssen gleichermaßen wie die farben-, flora- und artenreichen Hochebenen und Küstengebirge. Jeweils in Tagesmarschdistanz sind die unterschiedlichsten Vulkane zu erreichen. Entsprechend der nördlichen Lage stehen Bäume nur auf den unteren 100 bis 200 Höhenmetern, dann geht es schnell in Latschen über und jenseits von 500 Höhenmetern gibt es nur noch Gräser. Die Gegend ähnelt wegen der Nähe zu Hokkaido schon sehr Japan, und das nicht nur aufgrund der warmen Geysire und Abflüsse von den Vulkanen. Im Winter, der wohl dreiviertel des Jahres ausmacht, liegt eine solide fünf, oft sogar zwölf Meter hohe Schneedecke über dem ganzen höheren Land. Die letzten Schwünge in der fjordähnlichen Landschaft lassen sich in sattem Schnee bis zwei Meter an den Pazifik heran fahren…

Der tägliche Flieger (mit Sanitätszelle, weil sonst keine Verbindung und das Krankenhaus in Kamchatka nicht gerade für alles gewappnet) setzt auf. Der Anflug mit Schleife zwischen den drei Vulkanen Awachynsky, Koryaksky und Viljuchinsky in Flügelhöhe gebührend. Am Rollfeld steht ein kleines Zelt mit einer nagelneuen Gepäckausgabe. Jedoch viel zu klein und die Russen stehen in vier Reihen direkt davor, keiner lässt jemand anderen ran. Und ausgerechnet unsere Skier kommen als Erstes und lange als Einziges. Breite Schultern von Körpern mit weit über 100 Kilogramm Schlagmasse in Tarnanzügen sind zu überwinden um die Ski am Verschwinden zu hindern.

Dann gleich mal Einkauf für den Bootstrip, der unser erstes Abenteuer in Kamchatka werden sollte. Alla meint "Es ist alles da, nur nix zu Trinken". Ich lade Wasser ein. "Nein, was zu triiiiinkeeeeen!!!!!" heisst es militätrisch und sie zeigt auf das Regal mit Wodka. Als wir alle fertig sind und mit unseren Wagen voll Wodka und Bieren im Einkaufswagen heraus fahren werden wir nochmals zum Kaufen geschickt "Wodka ist immer zu wenig". Wir kauften nochmal und sie hatte Recht.

Wir übernachten mit Blick auf den Hafen, die Bucht, die drei Vulkane in einer Freeride Base - ein Loft nach norwegischem Vorbild. Man rüstet sich in Kamchatka langsam für Sporttouristen. Unglaublich riesige Atom-U-Boote laufen aus und ein. Ich mach mal lieber kein Foto. Daneben gibt es nur eine einzige weitere Möglichkeit für Touristen unterzukommen: Ein "internationales" Hotel - wobei die Dame, die dort in Personalunion Zimmerservice, Rezeption, Nachtdienst und Frühstücksdienst verkörpert, den Google-Übersetzer zum Versuch der Überwindung der Sprachbarriere ins Englische bemüht. Kein Prospekt, kein Name, nichts deutet darauf hin, dass "international" auch was extra-russisches meinen kann. Auch die Zimmernummern sind auf Russisch, für uns also mehr Zimmer"namen," was darin mündete, die Schlüssel einfach auszuprobieren. Es gab eh nur eine Etage mit Zimmern. Warum ich das so genau berichten kann? Bei unserer Abreise sollten wir dann einmal hier nächtigen...

Der Snack, der uns am ersten Abend serviert wird, besteht aus fingerdicken Scheiben von Heilbutt und Lachs. Der rohe Fisch wird hingestellt wie bei uns eben Kekse. Das isst man hier nach dem Essen, wenn man satt ist.

Im Industriehafen mit einem Anteil von 80% Rost steigen wir auf eine der vier Yachten, die am Rand liegen. Ein Katamaran. Ohne Mast. Zwei Aussenboarder, zweieinhalb Stockwerke. Zusätzlich gibt es ein Beiboot für maximal vier Personen, wenn es keine Welle gibt. Alles ist eng und knapp aber das brauchen wir. Wir wollen ja zum Skifahren und nicht noch 10 Jahre warten, bis die hier Kreuzfahrtschiffe gekauft haben. Der Skipper Dima ist ein kräftiger Seebär mit sonnigem Gemüt. Der Eigner Xenia ein pragmatischer flinker, gewiefter Kerl mit viel Mut, russisch auch mit Händen und Füßen zu sprechen. Ansonsten wird nämlich ein Begriff, den man nicht versteht einfach ein dutzend Mal wiederholt, jedoch weder gezeigt, noch umschrieben, auch nicht montagsgemalt oder gedeutet.

Bei der Ausfahrt passiert uns ein Überfall eines kleinen Schlauchers, von dem herüber geschrien wird und mit dem uns der Weg abgeschnitten wird. Haben wir die U-Boot-Ausfahrtsperre missachtet? Irgendeinen Hallo-Beamter-Gruß vergessen? Vergessen Wegzoll zu zahlen? Was sich fies angehört hatte, war nichts anderes als der Marktschrei, man könne bei den Zweien ein ganzes Schlauchboot voller Krabben kaufen. Das taten wir dann auch: Krabben, die sich in der Hand richtig effektiv wehrten und einen Kopf so groß wie einen eingefallenen Fußball hatten.

Auf langer, ruhiger Pazifikwelle fuhren wir 60 Seemeilen die Küste nach Süden. Augenringe vom Fernglas: Militärische Stellungen, alte Leuchttürme und Befeuerungen, viele Wracks und Ruinen waren zu sehen. Allerdings nicht wie in Schottland aus dem Mittelalter. Nein, Wracks und Ruinen einfach aus dem letzten Jahrhundert. Ein Schrei, eine enge Kurve und es ging auf eine Walfamilie zu. Gar nicht so einfach in ihre Nähe zu kommen, denn nach einem kurzen, halbminütigen Auftauchen waren alle drei wieder für mehrere Minuten gänzlich verschwunden. Bis sie dann einfach mal 200 Meter weiter in irgendeiner nicht vorhersehbaren Richtung wieder auftauchten, meterhohe Fontänen bliesen und verschwanden. Aber dann blieben sie doch mal bei uns - tauchten wirklich direkt seitlich am Schiff auf.

Am Weg zu unserem ersten Ziel unternahmen wir auch die erste Skitour. Mit dem Schlaucher setzten wir acht Freetourer plus unsere beiden russischen Bergführer Victor und Igor an Land über. Wir befanden uns in einem Fjord, das sieben Kilometer ins Landesinnere ragt. Die felsigen Berge an der Küste waren um die 700 Meter hoch, im Fjordinneren knapp 1.400 Meter. Wir starteten eine gemütliche Tour an einer kilometerweiten komplett weißen Stelle, an der ein Kar mit Bach ins Meer mündete. Darüber befand sich - natürlich - eine meterdicke geschlossene Schneedecke. Die Gruppe war dank guter alpiner Vorbereitung fit im Schritt und die Bergführer zufrieden. Ein erstes Gipfelerlebnis mit dem Pazifik in drei Richtungen und auch den Bergen in drei Richtungen. Ja, schon auf 750 Metern Seehöhe hat man alle Klimazonen durchlaufen: Schmelzumgewandelter Schnee am Wasser, windgepresster im Schatten und in der Höhe, angetauter gefrorener und firniger in der Sonne und kompakt pulvriger an dunklen, windgeschützten Stellen. Die ersten adrenalinbefeuerten Gipfelbilder wurden geschossen, unter enthusiastischem "Siskiiiiiiiiii"-Schrei in die Kamera: Funktioniert bestens und sorgt für gelöste Stimmung, alles lacht. Die Russen noch mehr. Wir werden aufgeklärt: "Siski" sind Brüste.

Unser Anlegeplatz tief in der Russkaya-Bucht besteht aus zwei alten, dreiviertel verrosteten Küstenschiffen, die da einfach versenkt wurden, damit man einen Hafen hat. Und es funktioniert. Die havarierten Lastenkähne fungieren als beidseitiger Anleger, als Wellenbrecher, als luxuriöses Plumsklo für Wilderer, als Behördenbau, als Werkstätten und als riesiger Grillplatz. A propos Wilderer: Auf Kamchatka gibt es das Wort "jagen", "angeln", "fischen", "Bauer" oder ähnliches nicht. Alles nennt sich "Wilderer" oder "wildern". Und das in einem positiven Wortsinn. Man darf täglich eine große Menge Fleisch und Fisch für Eigenbedarf und Weiterkauf aus der Natur nehmen. Da die Grenze da natürlich schwammig ist, ist das Wort "wildern" vielleicht sogar gerechtfertigt. Jedenfalls bezeichnet man sich offiziell so. Wer sich den Alltag nicht leisten kann wildert. Und wer ihn sich locker leisten kann auch. Die einen hausen und kommen zu Fuß, die andern kommen mit dem Skidoo.

Die Wracks wurden nicht ohne Grund hier versenkt: Es ist die längste Bucht, in der sich die Pazifikwellen auch bei Sturm schon weitestgehend verlaufen haben und es gibt eine gefasste Trinkwasserstelle zum Auffüllen der Bordbestände. Ein altes verfallenes Fischerdorf liegt 200 Meter weiter und war die einzige (ehemalige) menschliche Lebensstätte, die wir bei unseren Touren je gesehen haben. In den verfallen Hütten hausen eben solche Wilderer. Ein Skidoo, ein Schlauchboot, ein halbes Dutzend Hunde. Die Menschen dort sind entweder sehr scheu uns gegenüber oder wollen uns so vielleicht zu verstehen geben, dass wir besser auch von ihnen Abstand halten sollten.

Die erste der Nächte an Bord. Wir sollten uns schnell daran gewöhnen und werden sie wahrscheinlich unser Leben lang vermissen: Um 4 Uhr in der Frühe steht unsere Köchin Elya auf und fängt an ein "kleines" russisches Frühstücksmenü zu kochen. Plinis, richtigen Espresso aus der Bialetti, geschnittenes Obst und jeden Tag eine andere Eierspeise zum Hineinlegen. Die zweieinhalb Wochen würde Elya - eine einfache Mutter von vier mittlerweile erwachsenen Söhnen - diesen Tagesrhythmus haben: Aufstehen 4 Uhr. Kochen und Abspülen bis 10. Schlafen bis 12. Kochen von 12 bis wir wieder kommen um drei oder vier oder fünf. Brozeit. Saubermachen. Kochen. Schlafen während wir verdauen und trinken und singen bis 22 Uhr. Dann aufräumen und saubermachen und wieder ein paar Stunden schlafen bis 4 Uhr in der Frühe. Ihr Frühstück lässt uns glauben, dass wir erst einmal zwei Tage unterwegs sein würden. Und trotzdem bekommen wir noch belegte Brote und Nüsse - die wir sehr als Brotzeit zu schätzen lernten - mit. Das Highlight, an das wir uns viel zu schnell gewöhnten war der Rotlachskaviar. Frisch und in selbstabgefüllten Kilopackungen wurde er hier wie Marmelade zum Frühstück gereicht. Ich verschlang an diesem Tag nach mitteleuropäischen Maßstäben Kaviar für mindesten 500 Euro in einer Frische wie ich es nie mehr erleben werde. In dieser Form wäre der Kaviar wirklich das Geld wert, das er in Europa kostet.

Unser Kapitän bringt uns an eine flache Stelle im Fjord. Es geht los. Schnell. Denn jeder will bis zum Abend das Frühstück wieder von der Hüfte haben. Wenn wir gewusst hätten, was uns abends erwartet, wären wir nochmal schneller gelaufen. Wir visieren eine steile Flanke an, die im Wind war und müssen weit oben ab-, und die Skier an den Rucksack schnallen. Die Bergführer sind zufrieden, wie sich alle anstellen. Wir stehen auf einem erhabenen Vorsprung über der Russkaya Bucht, es ist sonnig und die Temperatur verführt sogar zum kurzzeitigen Oberkörperlüften. Die Abfahrt in einem firnigen Südosthang führt bis in den nächsten Fjord, der noch vereist ist und über eine dicke Schneedecke überquert werden kann. Ein leichtes Röhren ist zu hören. Es kommt von Felsen im Pazifik in Sichtweite. Seelöwen? Aufstieg auf die nächste Bergkette, erneut mit allen Klimazonen. Am Gipfel dann mehrere atemberaubende Optionen um in das Fjord noch eins weiter südlich abzufahren. Man sieht tief unten die Pazifikbrandung in kleinen Felsbuchten. Wir nehmen einen gerade aufgefirnten Südwesthang.

Hang?! Nicht missverstehen! Hier gibt es einfach nur eine einzige große weiße Schneefläche, die unterschiedliche Formen hat und nur an einigen Flanken bricht das Weiß senkrecht über Felsen ins Meer ab. Wie ein Bergland, das abgesägt wurde. Die Weiten der Hänge und unserer Schwünge vereinigen sich zu einem kleinen Tal. Und plötzlich finden wir die erste Bärenfährte. Fußabdrücke so groß wie eine Pfanne für 6 Personen, Klauen wie ein steinzeitlicher Faustkeil. Und klar erkennbar: Seine Winterschlaf-Höhle, seine Walzstätte, seine ersten Löcher bei der Suche nach Essbarem. Und wohin er sich davon trollte: Ins Land hinein. Seltsame Spuren den Berg knapp hundert Meter hoch und eine Rutschspur hinunter - ähnlich der kindlichen Spuren an einem Schlittenberg?! Victor macht uns auf kleine braune Flecken aufmerksam. "Geh du mal ein halbes Jahr nicht aufs Klo - weißt du was du für Verstopfungen hast?! Die will der Bär auch mit allen Verrenkungen loswerden. Das ist Medweshi Kakashki - Bärenscheiße".

Am Ende des kleinen Tals wartet hinter der Brandung unsere Yacht. Auf einem meterhohen Schneeabhang stehend packen wir zusammen und steigen in kleinen Gruppen auf den Schlaucher, der sich in der Brandung beim Ablegen fast zu überschlagen droht. Aber Gore sei Dank muss man seine Freetour-Kleidung dann nicht mal zum Trocknen aufhängen.
Die Fahrt zum Übernachtungsplatz zurück im Fjord brachte uns an den Felsen der Seelöwen vorbei. Was für ein Königreich! Was für ein lärmendes Grunzen! Was für ein ... Geruch! Wir sehen drei Snowboardspuren in einer steilen Eisflanke: Sie gehören zu Xavier de le Rue, der sich gleichzeitig mit uns mit seiner Yacht in der Gegend aufhält und einen Film dreht.

Auf der großen Pazifikwelle fällt mir dann auf, dass wir nur mit einem Motor fahren. "Tja, einer ist jetzt kaputt. Der hat sich ein Wilderer-Netz eingefangen." Ein flaues Gefühl im Magen stellt sich ein, mir wäre jetzt ehrlich gesagt lieber wir hätten noch den Mast. Allein, 60 Seemeilen weg von der nächsten Menschenseele in der Wildnis, vielleicht in den Pazifik abtreibend... Aber ich sollte den Sinn der Russen für Probleme und ihre Lösungen noch zu schätzen lernen.

Ungeahnt dessen haben Skipper Dima und "Reeder" Xenia das Netz einfach geflickt und wieder selbst zum Fangen ausgeworfen. Und gleich am Abend eine Lachsart gefangen, die Elya zum Abendmenü verarbeitete. Was für ein nahrhaftes, dank der einmalig guten Rohmaterialien wildes und nahrhaftes Essen. Unglaublich. Es folgten die nächsten Tage weitere Touren im Küstenbereich mit immer wieder atemberaubender Kulisse durch Delta- und Meanderlandschaften, an Bärenfährten vorbei, durch das kleine verfallene Fischerdörflein, Abfahrten mit Big Mountain Faces. Am Abend wurde gejagt, gefischt, die Gegend mit dem SUP oder Kajak erkundet. Gegrillt wurde auf dem Wrack und ein Abend mit einer weiteren Ski & Sail Gruppe aus Skandinavien und Russland verbracht. Eines nachts rutschte auch den russischen Seebären und Bergführern das Herz in die Hose, als plötzlich mal ein Licht langsam vom Berg herab kam. Das musste man jetzt schon beobachten. Aber es war wohl nur ein verspätet heimkehrender Wilderer aus dem Fischerdorf. Puh.

Am ersten Tag hatte ich noch ein Schneeprofil gegraben, um mit dem jungen aber absolut international erfahrenen Victor mitdenken zu können. Aber als ich die erste Schicht erst in 45cm Tiefe fand - gut verbunden und drüber und drunter schon umgewandelt - und die zweite Schicht von oben in zweieinhalb Meter Tiefe immer noch nicht aufhörte, war mir klar, dass ich so eine Situation noch nie hatte. Hier liegt einfach ein Schneepanzer. Und das Interessante spielt sich nur mit dem Wetter ganz an der Oberfläche ab.

Der Rückweg nach Petropawlowsk war langwierig und kräftezehrend, einerseits wegen dem einen, jetzt alleinigen Motor. Erst hatte ich Schiß - über den Pazifik - mit nur einem Außenboarder. Keine Redundanz. Was wenn.... Aber bei genauem Hinsehen erkannte ich, dass Dima und Xenia ein eingespieltes Team sind: Dima steht am Steuer und ist hochkonzentriert auf die See vor uns. Xenia steht am Bug - neun Stunden lang. Und immer, wenn er etwas im Wasser sieht gibt er Dima Anweisungen, wie wir sicher und ohne Gefahr für den Motor außen rumkommen. Andererseits sind wir allesamt seekrank geworden in der langen Welle und bei der langsamen Fahrt. Bei jeder Welle stoppte das Boot, drohte zurückzusurfen und wurde gedreht. Grausig. Noch einmal fischen wir in einer der Felsen- und Höhlenbuchten, nahe eines Felsens mit wohl einhunderttausend Vögeln. Zu zweit halten wir einfach Angeln mit Blinkern und kleinen Ködern ins Wasser und imitieren kleine Fische. Spätestens alle drei Minuten zappelt was dran und wir holen es aus dem Wasser. Fast wie auf dem Jahrmarkt. Der Eimer füllt sich schnell...

Bilder & Text: Martin Blum

Publiziert in Reports