Flucht ins gelobte Land

Von Marius Schwager am 5.Jan. 2015

Es ist Ende Dezember und noch immer ist kein Schnee in Sicht. Ohne Schnee kein Skifahren. „Warat guat, waun a Schnee kamat", sagen die Einheimischen. Bei den Skigebieten klingeln die Telefone heiß. Bei Temperaturen um +5°Celcius können auch hunderte Schneekanonen nichts ausrichten. Es bleibt die Flucht nach vorne: Kanada. Endlose Weiten, Kälte. Tiefer, kalter Schnee. Eine Wohnmobilreise ins gelobte Land.

Vancouver, British Columbia, Roger Pass, Powder Highway. Das gelobte Land für die Neuschneesüchtigen. Was für kleine Kinder das Disneyland ist, ist für Freerider Kanada. Das Bankkonto geplündert, Flieger gebucht, Wohnmobil gemietet. Kurz vor Weihnachten treten wir die Flucht nach vorne an.

Wir sind vor dem Schneemangel geflüchtet. Weihnachten kann man sich auch schöner vorstellen als im Langstreckenflieger. Immerhin, der Pilot lässt heute zur Feier des Tages freien Wein springen. Bei über 48 Stunden Reisezeit kommt ein kleiner Rausch ganz recht. Alkohol ist in Kanada eh fast unerschwinglich.

Mount Rohr
Nicht einmal drei Tage später liegt beim Aussteigen aus dem Camper hüfthoch Schnee neben der Straße und die erste Skitour beginnt direkt von der Straße aus. Etwa eine Autostunde östlich von Whistler am Highway 99 liegt der Duffey Lake. Seit etwa sieben Tagen hat es nun nicht mehr geschneit. Etwas ungewöhnlich für British Columbia in dieser Jahreszeit. Das Wetter ist oft schlecht und es schneit tagelang immer wieder einige Zentimeter. Je weiter landeinwärts man sich von Vancouver Richtung Calgary bewegt, desto regelmäßiger wird der Schneefall, desto trockener der Schnee, aber desto weniger Big Dumps gibt es.

Es ist Weihnachtszeit und viele geräumte Passstraßen hat diese Region im Winter nicht zu bieten. Entsprechend sind die meisten Skitouren schon gespurt und die Hauptabfahrten bereits gefahren. Im dichten Wald fällt die Navigation nicht gerade leicht. Das Gelände ist durchweg relativ steil und unübersichtlich, der Wald dicht und wir kennen uns nicht in der Region aus. So halten wir uns bei den Touren am Mount Rohr und Steep Creek an die in den Karten beschriebenen Touren.

Skitouren am Duffey Lake
Die Zustiege hier in Kanada scheinen nach ganz eigenen Logiken zu funktionieren. Es macht den Anschein, als hätte man die Wahl zwischen unglaublich steil, wild und etwas verplant durch die Wälder direkt aufzusteigen. Oder es gibt eine Art Sommerweg, dem man folgt. Die gelegte Spur ist dann meist immer noch ziemlich bescheiden zu gehen, immerhin nicht gar so unsaglich steil, dass man bei jedem Schritt vorwärts direkt zwei halbe zurückrutscht - selbst mit sehr guten Fellen und guter Technik. Die Variante mit den Sommerwegen ist auch nur bedingt spaßig. Zwei bis vier Stunden stupide geradeaus ein Tal entlang entschleunigt den mitteleuropäischen Geist zwar ganz wunderbar, man ist aber auch ganz schön k.o. nach solch langen Zustiegen.

Nördlich des Sees bis hin zum 2438 Meter hohen Mount Rohr befindet sich der Duffey Lake Provincial Park. Grizzlybären und Fischadler gibt es hier im Ökosystem der Leeward Pacific Range. Der See befindet sich auf 1100m Seehöhe. Der dichte Wald reicht bis etwa 1700m hinauf. Wir machen Bekanntschaft mit so mancher Engelmann-Fichte und Felsengebirgs-Tanne, die beiden vorherrschenden Baumarten der Gegend. Die Weite der unberührten Natur ist hier für einen in Tirol Lebenden wie von einem anderen Planeten. Egal wohin man blickt, man sieht kaum einen Eingriff in die Natur. Kanada ist noch wild und ursprünglich.

Steil und geil
Die Abfahrten sind allererste Sahne. Egal für welche wir uns entscheiden. Die Steilheit liegt stets bei 35-40°, immer wieder laden Pillows zum springen ein, kleine Spines pushen hier und da den Adrenalinpegel. Schnee- und Schlammlawinen haben große Schneisen in den Wald gefräst. Sie sind der einzige Anhaltspunkt, an dem wir uns im dichten Wald orientieren können. Der Schnee ist pulvrig, etwa knietief und die Lawinenlage relativ entspannt. Eigentlich passt alles. Es fehlt nur der Heli oder Lift, der uns diese Abfahrten endlos wiederholen lässt. Oder ein Lottogewinn.

Not-Stoked in Revel-Stoke
Ein paar Runden nordamerikanisches Skigebietsflair wollen wir noch erhaschen, bilden wir uns ein. Ein Bekannter, der in der Marketingabteilung von Revelstoke arbeitet, lädt uns ein.

Auf geht's ein paar Kilometer gen Osten. Was auf der Kanadakarte wie ein kleiner Katzensprung aussieht, sind dann doch schnell 450 Kilometer. Unser Camper fährt natürlich nur rund 90 km/h und säuft den Tank leer wie ein Seemann seine Schnapsflasche. 25 Liter braucht das Schlachtschiff auf 100 Kilometer. Zum Glück ist der Sprit um einiges weniger hart besteuert als zuhause. Ob unserer Klimabilanz mit diesem fahrbaren Einfamilienhaus und dem Transatlantik-Flug, begebe ich mich in mentale Askese.

Von allem ist man prinzipiell sehr „stoked" in Revelstoke. Schneelage, Schneebedingungen. Firstlines all Day long. Mir fällt es schwer, diese ultrapositive Einstellung zu teilen. Zumal dann, wenn Werbung und Realität so weit auseinanderliegen, dass man sich schon fragen muss, ob man die richtige Adresse ins Navi eingegeben hat.

Das Skigebiet hat nicht einmal eine Handvoll Lifte. Vor Modernität sprühen diese wenigen Anlagen auch nicht gerade. Das Skiticket kostet hier knapp das Doppelte als in einem durchschnittlichem Gebiet in Österreich. Dafür ist alles abseits der Pisten binnen wenigen Stunden durchgeackert bis auch der allerletzte Fleck frischer Schnee zur Buckelpiste aufgehäuft ist.

Der Durchschnittsgast schultert hier gerne seine Ski und steigt für eine weitere Buckelpistenabfahrt gerne auch einige Höhenmeter auf. Der wohl größte Unterschied zu den Alpen liegt in der Marketingabteilung begründet. Für die drei Lifte hat man in Revelstoke rund fünf Vollzeitmitarbeiter im Marketing. Mein kleines Hausskigebiet hat mehr Lifte, mehr Gelände und vermutlich keinen einzigen Vollzeit arbeitenden Bürobediensteten. Marketing heisst hierzulande, wir erstellen alle 20 Jahre ein neues Skiplakat. Das Skiticket kostet zuhause dafür nur die Hälfte. Die Unterschiede zwischen transportiertem Werbebild und Wirklichkeit könnten kaum größer sein. Wir drehen an diesem Tag mehr Runden im örtlichen Schwimmbad, als im Skigebiet.

Rogers Pass
Fast bekannter als Revelstoke ist in Skitourenkreise der nah gelegene Rogers Pass. Berge, wie für Skifahrer in die Landschaft gemeißelt. Direkt an der Passstraße beginnen zahlreiche Skitouren. Bevor man sich auf eine Tour begibt, ist es verpflichtend, sich einen Erlaubnisschein im Ranger-Haus zu holen. Jeder Skitourengeher muss einem Nationalpark-Ranger hier morgens seine geplante Tour vorstellen und darf erst mit erteilter Erlaubniskarte losmarschieren.

Schneekonsistenz, Menge und Berge sind hier, weit im Osten der Rocky Mountains, recht ähnlich zu denen am Duffey Lake. Die Abfahrten sind angenehm steil, der Schnee pulvrig, die gelegten Skitourenspuren ebenso unglaublich bescheiden. Wir sehen einige andere Gruppen und fragen frech, wieso man die Aufstiegsspuren nicht angenehmer anlegt. Wir blicken in fragende Gesichter. Sprachliche Probleme gibt es keine. Man versteht unser Anliegen erst, als wir eine eigene Spur vorgehen. Den beiden Gruppen, die wir treffen, war es schlicht nicht bewusst, dass man auch angenehm steile Aufstiegsspuren legen kann und sich nicht an jedem zweiten Baum mit vollem Armeinsatz hochziehen muss.

Whitewater
Whitewater ist das Hausskigebiet der Kleinstadt Nelson. Die Region im Selkirkgebirge ist bekannt für seine recht liberale Politik. Eine Unze Gras (rund 28 Gramm Marijuana) lässt sich hier mitunter leichter und günstiger besorgen als eine Kiste trinkbares Bier. Die 10.000 Einwohner sind bekannt für ihr gemütlich geführtes Leben mit Hang zum Aussteiger-Dasein.

Das Mini-Skigebiet Whitewater erlangte in den letzten Jahren durch die Filme von Sweetgrass Productions ein bisschen Popularität in der Skiszene. Dem häuslichen romantischen Charakter des Community-betriebenen Skigebiets hat das nicht geschadet. Taufrischen Schnee hat es zwar auch hier nicht mehr wirklich und das Gelände erinnert ein bisschen an die Allgäuer Voralpen, die Grundentspanntheit der Menschen hier ist aber ansteckend. Ein Local zeigt uns, erfreut über den Besuch aus Good Old Europe, einige nette Runs. „Chest deep first tracks all day long" – zumindest was wir darunter verstehen - sind leider aus. Einige schöne Powderruns, Pillowlines und Cliffs in trockenem und weichem Schnee lassen wir uns aber natürlich gerne kredenzen.

Wir haben zwei Skigebiete besucht und festgestellt, dass woanders auch nicht alles Gold ist, was überragend glitzernd scheint. Wir sind Skitouren gegangen, bei denen der Aufstieg fast ähnlich steil wie die Abfahrt war. Und wir wollen wieder kommen. Mit dem Wohnmobil durch Kanadas Berge. Ein Traum vieler Freerider - und das auch zu Recht. Das muss und wird wiederholt werden, sobald das Bankkonto wieder gefüllt ist. Das allerdings dauert vermutlich etwas länger.

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