Buchrezension: Helvetic Backcountry

Von Bernhard Scholz am 13.Dez. 2013

In der Schweiz gibt es eine ganze Menge Berge - und logischerweise auch viel Möglichkeiten für Tourengänger. Der Tourenatlas von Helvetic Backcountry deckt die gesamte Landesfläche ab und wird seinem Namen "Atlas" durchaus gerecht.

Der Tourenführer Helvetic Backcountry war 2006 ein Meilenstein und er ist es bis heute. Kaum ein Buch jüngeren Datums kann auch nur annährend mit der Fülle an Routen gepaart mit exzellentem Design, Übersichtlichkeit und Detailreichtum aufwarten. Jetzt hat das Autorenteam von damals etwas Neues geschaffen. Keinen Tourenführer - einen TourenATLAS. Mit dem Titel geben die Schweizer, die zufälligerweise auch noch ganz passable Designer, Fotographen und Autoren sind, die Marschrichtung vor und schüren Hoffnungen bezüglich Umfang, Genauigkeit, Auswahl und Handhabung.

Merkmale
Zunächst einmal zum Offensichtlichen: Der Atalas wird in einer Kartonbox geliefert, besteht aus einem knapp 400 Seiten dicken Buch und enthält einen ganzen Stapel Karten sowie einen Karton mit Falzmarken. Ruck zuck wird aus dem Karton die für das Kartenmaterial passende Aufgewahrungsbox. Die Karten sind allesamt von Swisstopo - also topaktuell, äußerst detailreich und einfach schön. Fast ist man versucht sie als Poster an die Wand zu hängen. Das Buch selbst ist ein schwerer Schinken der mächtig Eindruck schindet und den man sicher nicht auf Tour nimmt. Zum mitnehmen sind die Karten, dazu aber später mehr.

Design
Schweizer Design zeichnet sich durch seine Schlichtheit aus bei der nichts Überflüssiges bleiben darf aber auch keine noch so kleinen Details vergessen werden. Dieses Prinzip wird hier aufgegriffen. Das merkt man schon an der Haptik, dem Gefühl beim Anfassen der einzelnen Bestandteile des Atlas und der Karten. Kein fanzy Hochglanzpapier, kein Multisonderfarbendruck - sondern einfach, schlicht und für das Thema passend gut und hochwertig. Auch im Namen und im Text zieht sich diese Herangehensweise durch das gesamte Werk.

Es ist ein Atlas - kein "umfassender Tourenführer der gesamten großen weiten Schweizer Heidiheida Berge", kein "die 100.000.000 schönsten Touren der Schweiz vom 3Ländereck bis zum Baguette", kein "alles für Anfänger bis Experten von Bregenz bis Genf", sondern einfach "Helvetic Backcountry". Ein Titel der alles sagt, modern und zugleich zeitlos ist und von jedem verstanden wird der angesprochen werden soll. Ein weiterer Punkt sind die mit sehr viel Detailliebe illustrierten Karten. Sie basieren auf den 50.000er Swisstopo Karten und wurden von dem Basler Illustrator Serafin Pazdera gezeichnet. Steven Götz aus Bern war an der Umsetzung der Landkarten-Layouts ebenfalls beteiligt. Das Ergebnis "liebevoll" zu nenne ist eine Untertreibung. Praktikabilität = volle Punktzahl.

Besonderheiten des Designs
Was das Buch und die Karten aber gegenüber allen anderen Tourenführern um Längen voraus hat ist die integrale Aufnahme des Designs in die Leserführung und das Thema. Oft sind Touernführer eher grobschlächtig: Einfach ein paar Zahlen und Fakten sowie eine Routenbeschreibung in mehr oder weniger gut platzierte Kästchen gepackt, das ein oder andere Bild daneben, manchmal eine winziger Kartenausschnitt und der Kunde wirds schon fressen. Nicolas Fojtu, der federführende Layouter und Fotograph, ist den anderen Weg - den schwierigen und arbeitsintensiven - gegangen.

Mit Markus von Glasenapp hat er sich zunächst einmal Gedanken gemacht was und in welcher Form man wissen muss und wie man das am besten verpackt. Herausgekommen ist eine schlüssige Komposition mit der man zunächst in Möglichkeiten, tollen Bildern, die auch gerne mal über Doppelseiten gehen, schwelgt, blättert, träumt und dann mit den beiden absolut praxisbezogenen Bestandteilen auf Tour geht. Das sind die Karten, die für die Touren völlig ausreichen, und dem einfachen Infosystem aus Farben, Gehzeiten und Richtungsanweisungen. So einfach kann das sein - wenn sich mal jemand Gedanken macht.

Inhalt
Von Ost nach West, von Nord nach Süd - natürlich sind nicht alle alle alle möglichen Touren der Schweiz im Tourenatlas enthalten. Das würde wohl jedes Format sprengen. Aber immerhin kann man 1 Millionen Höhenmeter oder in den nächsten 20 Jahren 20 Touren jedes Jahr durchführen. Für die meisten reicht das - der Rest benötigt keinen Tourenführer. Die Bandbreite geht von einfachen und kurzen Touren bis hin zu anspruchsvollen, teils sehr schweren und auch sehr langen Touren. Dazwischen ist alles geboten. Und ein Merkmal, das man so noch nie gesehen hat ist die Kombinierbarkeit der Touren zu Mehrtagesausflügen!

Durch die Navigation mit den Karten kann man beliebige Einzeltouren miteinander verknüpfen - auf den ersten Blick "sieht" man was Sinn macht und was nicht. Und als sei das nicht genug sind auch noch die ÖPNV-Verbindungen (die in der Schweiz exzellent ausgebaut sind) mit eingezeichnet. Dazu gibts Infos zu Übernachtungsmöglichkeiten. Das ist, ohne zu übertreiben, wirklich ziemlich nah dran an fantastisch. Es gibt ein kurzes Kapitel über Naturschutz, die Nutzung des Atlas selbst, Sicherheit und all das Zeug das man eigentlich immer überblättert. Hier ist es gut geschrieben und knapp gehalten, das gefällt.

Ausrichtung
Die Autoren sind Snowboarder. Das merkt man an den Bildern. Da die Welten der Schneesportler inzwischen zusammen gewachsen sind und Splitboarder mit Freeskiern ganz selbstverständlich gemeinsam auf Tour gehen, ist das bereichernd. Klar ist daher auch die grundsätzliche Stoßrichtung - es sollen Snowboarder und Freeskier, die sich nicht in Skigebiete sperren lassen wollen und die Mühsal vor dem Vergnügen schätzen, angesprochen werden. Auch klassische Skitourengeher finden genug Auswahl, angesichts der Emotionen und der Tourenauswahl sind sie aber nicht das Hauptklientel.

Localism kennt Helvetic Backcountry nicht - überall finden sich Hinweise auf kleine Varianten oder versteckte Rinnen. Wenn etwas nicht enthalten ist, dann sind es meist Gründe des Naturschutzes die sinnvollerweise im Vordergrund stehen. Auch Routen mit Abseilern oder ausgesetzten Kletterpassagen werden beschrieben - hier ist ein Kritikpunkt anzusetzen: leider fehlt in diesen Fällen die Einstufung in die inzwischen anerkannte Volo-Skala. Man weiß leider nicht wie schwer die schweren Touren wirklich sind. Diesen Makel tragen jedoch fast alle Tourenführer, wobei sich die meisten ohnehin scheuen überhaupt Informationen zu anspruchsvollen Unternehmungen zu vermitteln.

Going Digital
Als sei all das noch nicht genug gibt es auch noch eine App für das ganze Ding. Man gibt ein was man machen will, und schon spuckt einem das Smartphone eine kleine Auswahl aus. Inklusive Karte, Aufstiegshöhenmetern, der Abfahrt und einer Zeitangabe. Damit der Tourenatlas nicht überflüssig wird weist natürlich der Text auf die entsprechenden Seiten im Gesamtwerk hin. Ums Digitale haben sich Anthon Astrom und Lukas Zimmer, die in Zürich ein Designbüro betreiben, gekümmert. Die App ersetzt den Atlas nicht, ist also nur ein kleines Addon und wäre im Endeffekt wohl auch verzichtbar.

Taugt das Ding was?
Dem leicht euphorischen Ton des Autors ist wohl schon zu entnehmen, dass dem Schweizer Team mit Helvetic Backcountry wieder ein großer Wurf gelungen ist. Schon das Vorgängermodell, damals noch auf Snowboardtouren beschränkt (aber es gibt eine ganze Menge Freeskier die ihre Finger nicht davon lassen konnten), war richtungsweisen. Diesmal ist Markus von Glasenapp und Nicolaus Fojtu erneut ein einzigartiges Werk gelungen.

Dass sich für solche Projekte keine Verlage finden lassen mag, was das Finanzielle angeht, bedauerlich sein, das Ergebnis überzeugt aber um so mehr. Im Eigenverlag hat man offensichtlich die Möglichkeiten um innovative Produkte zu schaffen, an die eine durch die digitale Welle gelähmte Verlagsbranche nicht denkt oder nicht glaubt. Helvetic Backcountry ist das erste dem Autor bekannte Buchprojekt im Wintersportbereich das durch ein Crowdfunding realisiert wurde - Dank an alle Unterstützer.

Fazit kurzum
KAUFEN. Keine Mühen und Kosten wurden gescheut - Das Ergebnis spricht für sich. DIE Buchempfehlung für alle die auch nur eine einzige Tour in der Schweiz gehen wollen. KAUFEN - es gibt nur 3.000 Stück, der Preis von 79,80 Euro ist angemessen.

Den Vertrieb in DE-AT hat der Bergbuchverlag Panico übernommen. {gallery}2308{/gallery}
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