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Der Verband deutscher Berg- und Skiführer (VDBS) hat eine Strategie entwickelt, die die Risikobeurteilung von Lawinen aus unterschiedlichen Perspektiven anders angeht als bisher üblich. Wir haben uns mit Chris Semmel, staatlich-geprüfter Berg- und Skiführer, und beim VDBS zuständig für die Bergführerausbildung, über die entwickelte GKMR-Methode und ihre Vorteile gegenüber den klassischen Herangehensweisen der Lawinenbeurteilung unterhalten.

Reduktionsmethode nach Munter

Anfang der 1980er Jahre entwickelte der Schweizer Bergführer Werner Munter die Reduktionsmethode. Er war der Meinung, dass Skibergsteiger mit der komplexen Beurteilung der Lawinengefahr überfordert sind und deklarierte seine Reduktionsmethode als treffsicher und einfach zu handhaben. Man hatte die Erfahrung gemacht, dass mit der bis dahin vorherrschenden analytischen Lawinenkunde die tatsächlich in einem Hang vorherrschende Lawinengefahr nur unzureichend beurteilt werden konnte.

Seine Reduktionsmethode verknüpft dabei die Hangsteilheit mit der herrschenden Lawinenwarnstufe und verschiedenen Reduktionsfaktoren, also einem Algorithmus, um das Restrisiko abzuschätzen. Die Rechenarbeit entpuppte sich allerdings als immer noch zu komplex und wurde stark diskutiert.

Aus diesem Grund vereinfachte Werner Munter seine Reduktionsmethode zur „Elementaren Reduktionsmethode“ die wiederum weiter zur „Grafischen Reduktionsmethode“ verbildlicht wurde. Die Methode ist simpel: Die Steilheit der Hänge, die befahren werden, wird jeweils um 5° reduziert, je höher die Lawinen-Gefahrenstufe prognostiziert ist. Oder: „Fahre bei ‚mäßiger‘ Lawinengefahr in allen Expositionen keine Hänge über 39°, bei ‚erheblicher‘ Lawinengefahr nicht über 34° und bleibe bei ‚großer‘ Lawinengefahr auf der Piste oder im flachen Gelände des Pistenbereichs: < 30°!“ (Tobias Kurzeder/Holger Feist: Powderguide. Risiko-Check für Freerider. 4. erweiterte Auflage, Tyrolia, 2012)

Chris Semmel: "In der Praxis heißt das dann, dass bei Lawinenwarnstufe 1 – gering – Hänge bis 40° Hangneigung befahren werden dürfen, bei mäßiger Gefahr bis 35° und bei erheblicher Gefahr bis 30°. Für sehr umsichtiges, verantwortungsbewusstes Verhalten – z.B. wenn Abstände risikobewusst eingehalten werden und die Schneedecke entsprechend entlastet wird – addiert man 5 Grad Steilheit hinzu. Dieser durchaus simple Algorithmus wurde auch bei der SnowCard aufgegriffen, geringfügig verändert und in Form einer Kurve als Zusammenhang zwischen Hangsteilheit und Lawinen-Gefahrenstufe dargestellt und verwendet."

Warum es eine neue Methode der Risikobeurteilung braucht

Chris: "Algorithmus-basierte Methoden wie die Grafische Reduktionsmethode oder auch die vom Allgäuer Lawinenexperten Martin Engler entwickelte SnowCard lassen sich aus unserer Sicht und heutigem Wissensstand vor allem in diesen vier Punkten kritisieren:

1. ist Risiko das Produkt aus Eintretenswahrscheinlichkeit eines Ereignisses (= Gefahr) mal den möglichen Konsequenzen. Ohne beide Aspekte kann man keine Risikobewertung vornehmen. Methoden, die das nicht tun, treffen lediglich Aussagen zur Gefahr.
 
2. sind sich Fachleute einig, dass man eine regionale Gefahrenstufe wie im LLB gegeben nicht auf einen Einzelhang projizieren kann. Das gilt für die Planung als auch für die Bewertung draußen am Einzelhang. Man begibt sich hier in’s Reich der Spekulation, da man ein Skalenproblem hat.
 
3. besteht wissenschaftlich kein Zusammenhang zwischen Gefahrenstufe und Hangsteilheit, der es begründet, warum ich bei einem „Zweier" steiler fahren darf als bei einem „Dreier“. Die Auswertung von Stephan Harvey vom Schweizer SLF zeigt vielmehr, dass unabhängig von der Gefahrenstufe Schneebrettlawinen immer im Mittel bei 38° abrutschen - egal ob nun Lawinenwarnstufe 2, 3 oder 4 herrscht.
 
4. ist nachweisbar, dass der Beurteilungsradius (ob Einzelhang oder ganze Geländekammer) nicht von der LLB-Gefahrenstufe abhängt, sondern vor allem mit dem Lawinenproblem korreliert. Die SnowCard gibt jedoch vor, bei LLB Stufe 2 sei nur der unmittelbare Bereich (20-40m) um die Spur zu berücksichtigen, bei Stufe 3 der gesamte Hang und bei Stufe 4 die gesamte Geländekammer. Das ist falsch. Vielmehr sind bei Neuschnee- und Altschneeproblemen Fernauslösungen zu erwarten, bei Trieb- oder Temperaturproblemen nicht. Somit ist der Beurteilungsradius vom Lawinenproblem abhängig, nicht von der Gefahrenstufe."
 

Dennoch halten die Befürworter an der Reduktionsmethode fest, denn Auswertungen zeigen, dass zwischen 78 und 84% aller Lawinenunfälle durch das Anwenden der Algorithmen hätten verhindert werden können. Was auf den ersten Blick nicht schlecht aussieht, relativiert sich bei der einfachen Frage: Und was, wenn ich unter den übrigen 16 bis 22% bin? Zusätzlich stellt sich auch die Frage nach der Treffsicherheit: Die meint zwar einerseits natürlich die Höhe der Unfallvermeidung, andererseits aber auch, auf wie viele Hänge unnötig verzichtet werden musste.

Chris: "Hier sind wir grob abgeschätzt bei einer Quote von ca. 1.000:1. Ich verzichte auf 1.000 Hänge, um den einen Hang, der wirklich gefährlich ist, zu vermeiden. Das ist zwar „sicher“, aber ein fraglicher Wirkungsgrad…"

Wie sich die GKMR-Methode unterscheidet

Der VDBS war davon überzeugt, dass die Treffsicherheit deutlich verbessert werden und die Wahrscheinlichkeit konkreter als „zwischen 16 und 22%“ angegeben werden kann. Deshalb wurde die allgemeine GKMR-Risiko-Strategie, die in der Bergführerausbildung zum Einsatz kommt, speziell auf die Wahrscheinlichkeit eines Lawinenereignisses hin verfeinert.

Sie besteht grundsätzlich aus vier Schritten:

1. Gefahren erkennen = Wie hoch ist die Eintretenswahrscheinlichkeit einer Lawinenauslösung?
2. Konsequenzen abschätzen = Wie drastisch sind die Folgen?
3. Maßnahmen überlegen = Welche Maßnahmen können die Eintretenswahrscheinlichkeit verringern bzw. die Konsequenzen abmildern?
4. Risiko bewerten = Wie bewerte ich abschließend das Risiko unter Berücksichtigung des Risikolevels meiner Gruppe?
 

Chris: "Vereinfacht gesagt gilt Risiko = Gefahr x Konsequenz. Das klingt banal, aber viele der gängigen Strategien vergessen das und beschäftigen sich fast ausschließlich mit der Gefahrenbeurteilung. Das Risiko kann aber nur bewertet werden, wenn man auch die Konsequenzen mitdenkt. In puncto Lawinen bedeutet das, dass es einen wesentlichen Unterschied macht, wie groß die mögliche Lawine wird, ob sich „Geländefallen“ im Auslauf befinden und ob die Schnee-Tafel oben ausgelöst wird oder von unten."

Das „M“ steht dabei für mögliche Maßnahmen, die die Eintretenswahrscheinlichkeit einer Gefahr reduzieren oder die Konsequenzen abmildern können, z.B. Entlastungs- oder Sicherheitsabstände. So wird einerseits die Wahrscheinlichkeit einer Lawinenauslösung herabgesetzt, andererseits sorgen sie für weniger drastische Konsequenzen, weil sich immer nur eine Person im Gefahrenbereich befindet.

Ein weiterer Vorteil der GKMR-Methode besteht darin, dass man nicht unbedingt einen Lawinenlagebericht braucht, um sie anzuwenden. Sie kann sich auch allein auf persönliche Beobachtungen stützen, wenn kein LLB zur Hand ist oder dieser nicht stimmig erscheint.

Anwendung der GKMR-Methode

GKMR lässt sich sowohl in der Planung wie auch direkt am Einzelhang anwenden. Ein vereinfachendes Tool namens „Passt die Tour?“ hilft auch weniger erfahrenen Freeridern und Tourengehern bei der Bewertung. In Kombination mit dem Tool der „30°-Methode“ lassen sich so die herausgearbeiteten Schlüsselstellen eines Hanges bewerten.

Chris: "Zugegeben, die Schneedeckenbewertung hinsichtlich Auslösewahrscheinlichkeit ist nicht gerade trivial. Es erscheint uns aber als wenig hilfreich, nicht existierende Zusammenhänge als Grundlage für eine Gefahrenbeurteilung zu verwenden. Studien zeigen, dass bei einer Lawinenauslösung immer zwei Größen beurteilt werden müssen. Die Bruchinitialisierung und die Bruchausbreitung in der Schwachschicht. Sprich, kann ich die Schwachschicht in meinem Hang stören und wenn ja, neigt diese dazu den Bruch auszubreiten?"

Mit den Hilfsmitteln „Passt die Tour?“ und der „30°-Methode“ ist die Methode prinzipiell für jede/n anwendbar, der in einer Karte Hangsteilheiten bestimmen und seine Tour im Gelände auch wiederfinden kann. Im Gelände selbst muss man die Hangsteilheit einschätzen können. Hilfreich ist natürlich ein Verständnis der vier wichtigsten Lawinenprobleme Neuschnee, Triebschnee, Altschnee und Temperaturproblem.

Chris: "Von der Herangehensweise ändert sich dann grundsätzlich für den „normalen“ Tourengeher oder Freerider wenig, außer dass er die Strategie seinem individuellen Wissen und Können entsprechend füttern kann. Die Grafische Reduktionsmethode beispielsweise gibt starr über die LLB-Stufe und die Hangsteilheit eine farblich abgestufte „Auslöse-Gefahr“ an. Dieser unterstellte Zusammenhang zwischen Gefahrenstufe und Hangsteilheit besteht aber gar nicht, es können keine Schneedeckeninformationen in das Bewertungssystem eingefügt werden."

Genau hier setzt GKMR an: Weniger erfahrene Skitourengeher und Freerider wenden „Passt die Tour?“ an, Fortgeschrittene können mit zunehmendem Wissen auf die Beantwortung der vier relevanten Kernfragen zur Gefahr, also der Auslösewahrscheinlichkeit, übergehen.

1. Gibt es eine Schwachschicht die ich stören kann (Initialisieren)?
2. Breitet sich ein Bruch in dieser Schwachschicht aus (Bruchausbreitung)?
3. Existieren frische Spuren im Hang bei Trieb- oder Neuschneeproblem (frische Spuren)?
4. Drohen weitere Gefahren wie andere Gruppen oberhalb, die eine Lawine auslösen können, spontane Lawinen, Seracs, Spalten etc. (weitere Gefahren)?
 

Weitere vier Fragen zu den Konsequenzen ermöglichen anschließend eine fundierte Risikobewertung:

1. Wie groß ist der Steilhang?
2. Wie mächtig kann der Anriss werden?
3. Gibt es Geländefallen?
4. Gibt es keine sicheren Sammelpunkte?
 

Chris: "GKMR ist die allgemeine Grundstruktur des Risiko-Managements in der Ausbildung der Bergführer beim VDBS. Die richtigen Fragen zu stellen und Beobachtungen einzuordnen zählt dann zur angewandten Praxis. Es geht darum, das nötige Wissen zu erwerben, dieses ins Gelände zu übertragen und Erfahrungen zu sammeln, um dann diesen Entscheidungsprozess zu stabilisieren. Das ist nicht einfach, aber aus unserer Sicht alternativlos."

Nur wenige werden letztendlich Bergführer werden und in diesem Wissensstadium ankommen. Dennoch lohnt es auch für alle anderen, die sich abseits der markierten Pisten unterwegs sind, sich mit diesem Ansatz zu beschäftigen. Was im ersten Moment extrem komplex und verwirrend klingt, erschließt sich schon durch ein wenig Beschäftigung mit den Schlüsselstellen- und „Passt die Tour?“-Tools.

Für alle, die mehr zu GKMR wissen und GKMR in der Praxis ausprobieren wollen, bietet der VDBS Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!, in deren Kursen die Inhalte in der Praxis vermittelt werden.

Downloads von www.projektberg.de:

Merkblatt Tourenwahl

Merkblatt Von der Planung bis zum Einzelhang

Publiziert in Know How